Henrik Ibsen: Nora – Eine Studie zur Hysterie

Sapho mit Stift und Buch

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Jede Zeit bringt ihr Leitsymptom hervor. In unserer heutigen dürften es die Süchte sein, die in üppiger Vielfalt wuchern. Dem Arzt gibt das Leitsymptom ersten Aufschluss darüber, nach welcher ihm zugrundeliegenden Krankheit er zu forschen hat. In der homöopathischen Heilkunde ergab sich daraus das „Mittel der Wahl“. Über derartige Arzneien verfügen Tiefenpsychologen nicht. Sie schauen vielmehr am aufmerksamkeitheischenden Symptom vorbei. Sie fragen nach der Art und Weise, wie sich der Patient gegenüber dem Leben mit all seinen Anforderungen einstellt. Treibt man diese biographische Forschung weit und auch breit genug, dann wird Psychoanalyse notwendig zur Kulturanalyse. Hierbei müssen Fragen nach dem Wohin und Wozu des Menschenlebens beantwortet werden. Auf der Couch liegt die Gesellschaft, die ja die Kehrseite des individuellen Seelenlebens abgibt. Die großen Vorbilder in Sachen einer so weitgesteckten Psychoanalyse in der noch kurzen Geschichte der Tiefenpsychologie bleiben weiterhin Sigmund Freud und Alfred Adler.

Freuds wegweisende Studien über Hysterie (1895) bildeten den Auftakt zu dieser neuartigen Betrachtung von Krankheit in einer anthropologischen und gesellschaftskritischen Perspektive. Was Freud betrieb, war zunächst noch keine gesicherte Wissenschaft, die auf eine gesicherte Methode zurückgreifen konnte. Er war noch intuitiv auf der Suche nach einer Vorgehensweise, die dem zu erforschenden Gegenstand angemessen wäre. Was man damals „Hysterie“ nannte, erschien als neuartige Krankheit, die nicht auf irgendwelche ursächlichen Krankheitserreger zurückgeführt werden konnte. In der Kunst behandelte man das Phänomen schon des längeren. Insbesondere der norwegische Dramatiker Henrik Ibsen ist hier zu nennen. Bereits vor seinen österreichischen Schriftsteller-Kollegen begann er 1877 mit den Stützen der Gesellschaft die Reihe seiner gesellschaftskritischen Dramen. Mit Nora Ein Puppenheim wurde unübersehbar, dass diese Hysterie mehr war als nur eine Frauenkrankheit. 

Was die Literatur entdeckt und zur Anschauung bringt, das wird irgendwann wegweisend für die Wissenschaft. Sie greift das Neue als Problemstellung auf und gibt ihm einen Namen. Im ausgehenden 19. Jahrhundert entstand so ein neues Krankheitsbild, die Hysterie. Wie eine Infektion schien sie vorwiegend bürgerliche Frauen zu ‚befallen’. Vergeblich suchte die traditionelle Medizin nach den ‚Ursachen’ des Übels, um ihm nach bewährter Weise Herr zu werden. In Frankreich bahnten zwei Ärzte, Charcot und Janet, andere Wege zu einem Verständnis des Phänomens an. Bei ihnen lernte 1885 Sigmund Freud, um zehn Jahre später dann seine Studien vorzulegen, mit denen er die von der Literatur gestellten Rätsel wissenschaftlich zu lösen suchte. Hierzu aber musste zuerst eine völlig neue Art der Herangehensweise erfunden werden – die Psychoanalyse. Vorbild waren ihm dabei weniger die Naturwissenschaften als die Kunst: Er erforschte nicht mehr Krankheiten – ihn interessierten die Kranken und ihr Leben, was die Lektüre seiner Darstellungen zum Literaturgenuss macht. „Schon in den monotonen Studien über Hysterie stellt sich zuweilen eine fast romanhafte Spannung ein, ... wenn (er) ... mit eindrucksvoll behutsamer Gebärde die Decke über dem Seelendunkel lüftet.“ (W. Muschg)

Freuds Seelenbetrachtung ging weit über die akademische Psychologie hinaus. Seine Psychoanalyse wollte zwar den Menschen in der Biologie verankern, aber seine Gedankenwelt erschloss historische und letztlich mythologische ‚Tiefen’-Dimensionen. Der Psychoanalytiker Freud vereinte den unbestechlichen Blick des medizinischen Pathologen mit der Optik der historischen Schule des 19. Jahrhunderts. Dieser genialen Synthese lag eine geistige Hingabefähigkeit zugrunde, deren intuitive Ganzheitsschau an den Dichtern der Weltliteratur geschult war. 

Über Henrik Ibsens Rolle als Schöpfer einer ‚psychoanalytischen’ Dramatik ließe sich Ähnliches sagen, nur ...

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