Homers Odyssee – Die Entdeckung der Erziehungsbedürftigkeit des Menschen

Sapho mit Stift und Buch

Telemachs Bildungsreise

 Von Homer, dem Dichter der Odyssee, heißt es, er sei es gewesen, der den Hellenen ihre Götterwelt gegeben habe. Nun ist es heute unumstritten, dass Gottheiten so etwas wie eine kollektive Erfindung sind. In frühen Zeiten einer Kultur hervorgebracht, gehören sie zum lebendigen Bestand einer mythologischen Weltanschauung, die von Generation zu Generation weitergelebt, weitererzählt und so unmerklich auch weiterentwickelt wird. Wenn irgendwann das Erzählte schriftlich festgehalten ist, kommt eine neue Dynamik in diesen Prozess; denn das geschriebene Wort legt der Phantasie Zügel an. Was in Schrift verwandelt wurde, steht von nun an dem Leser objektiviert gegenüber. Die Schriftsprache bringt ein Moment intellektueller Disziplinierung in die Welt. Sie bindet den Schreiber an eine Vernunft, die allen Menschen gemeinsam ist. Diese Vernunft wird neben dem Mythos zum zweiten Band, das die Einzelnen mit der Gemeinschaft verknüpft. Dem Schreibenden, insbesondre wenn er als Dichter virtuos über Sprache verfügt, verleiht das eine Breiten- und Tiefenwirkung, die den kulturellen Wandlungsprozesses maßgeblich mitbestimmt. 

Homer ist einer von den Erneuerern des Menschengeschlechts, indem er neue Dimensionen und Sinngehalte eröffnete. Auf seine Worte hörten spätere Dichter. Aus seinen Reimen spricht bis heute eine Stimme, von der auch wir noch unmittelbar berührt werden. In die uns ungewohnte Form kunstvoller „Hexameter“ gegossen, bekam die Odyssee ihre endgültige Gestalt. Hier begegnet uns die untergegangene antike Welt heute noch so, als sei sie auf ewig lebendig. Darin dürfte eine Erklärung dafür liegen, wie ein einzelner Schriftsteller nicht nur die Weltsicht seiner Zeitgenossen prägen konnte, sondern bis heute Maßstäbe für die Wege der Kultur setzte. 

Warum heben wir hierbei die Rolle der Götterwelt für die Kulturentwicklung hervor? – Die Erfindung der Götter war ein ungemein bedeutsamer Schritt des frühen Menschen. Mit ihnen entdeckte er ein neuartiges Orientierungssystem. Seine Aufmerksamkeit wendet sich von den Erdgeistern weg, neuen und höheren Gottheiten zu. Er wird nun zum Wesen des Fernblicks. Zu Homers Lebzeiten im 7. vorchristlichen Jahrhundert verfügten die verschiedenen Griechenstämme über ihre je eigene Mixtur an Gottheiten, Naturgöttern und menschenähnlichen Wesen in olympischer Höhe. 

Es war die poetische Hoheit dieses Dichters, der wie ein Herrscher im Reiche des Geistes darüber entschied, welcher von den wegweisenden Ratgebern Anspruch auf ein ewiges Leben haben sollte. Nur die ihm gefälligen Götterwesen übernahm Homer in seine Epen und gewährte ihnen so eine zeitüberdauernde Existenz; dazu mussten sie jedoch über einen Mindeststandard an Kulturfähigkeit verfügen. Dieser beherzte Eingriff in die überlieferte mythologische Ober- und Unterwelt, ihre Entrümpelung und Neuordnung, kann als ein wesentlicher Bestandteil von Homers literarischem Anliegen betrachtet werden. 

Insofern lässt sich die kulturgeschichtliche Bedeutung Homers kaum hoch genug ansetzen. Erst ein Jahrhundert nach ihm traten neben den Dichter nun auch Philosophen, die sich die Frage nach dem Wesen von Göttern und Menschen stellten. Karl Jaspers nannte jene entscheidende Phase der Menschheitsentwicklung die „Achsenzeit“ (1949). Es ging ihm dabei um das erstaunliche Phänomen, dass in räumlich so weit auseinanderliegenden Regionen wie China, Indien, Persien und Griechenland beinahe zeitgleich ein Prozess des Innewerdens eines geistigen Seins im Menschenleben einsetzte. Es begann sich in diesen Völkergruppen erstmals das zu regen, was wir heute als Selbstbewusstsein bezeichnen. Was wir heute als einen selbstverständlichen Anteil unseres Wesens zu empfinden gewohnt sind, begann damals als geistige Selbstentdeckungsreise. Dadurch verwandelte sich das Menschentier in ein Wesen, das auf seine Welt zu schauen lernte.

Homer gehört zu den großen Entdeckern des Menschengeistes, die ihr Erstaunen über die sich ihnen zeigende neue Welt in Literatur verwandeln. Wer die Odyssee liest, der spürt, dass es dem Verfasser um das Bild von einem Menschen geht, der sich aus der alles durchdringenden Macht des Mythos zu lösen beginnt ...

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