Heinrich Heines Lutherportrait

Sapho mit Stift und Buch

Heinrich Heine über Martin Luther 

Was helfen dem Volke die verschlossenen Kornkammern, wozu es keinen Schlüssel hat? Das Volk hungert nach Wissen und dankt mir für das Stückchen Geistesbrot, das ich ehrlich mit ihm teile. In dieser Aussage scheint mir die Beziehung Heines zu seinem Vorfahren im protestierenden Geiste gekennzeichnet. Beide, Heine und Luther, schauen nicht bloß dem Volk dazu auf’s Maul, sondern muten ihm einiges zu. 

Als ich den 150-seitigen Essay Heinrich Heines vor mehr als 30 Jahren zum ersten Mal las, verstand ich wenig vom Inhalt. Es ging mir wie zuvor schon einmal bei seinem Deutschland, ein Wintermärchen: begeistert von poetischer Artistik und intellektuellem Esprit, etwas verschüchtert vom Nicht-gleich-Verstehen. Man hat es eben mit einem Autor zu tun, der bei G.W.F. Hegel in die Schule gegangen ist, der sich die Kulturgeschichte nicht bloß angelesen hat. Ich jedenfalls litt ein wenig in der Rolle des geistigen Fußvolks und hatte nur den Trost durch die Freude an Heines sprachlicher Virtuosität. Die erneute Lektüre des Luther-Aufsatzes übte später noch einmal denselben Zauber aus – nur war der Genuss größer, da ich manches jetzt sogar zu verstehen glaubte.

Anlass für Heines Lutherbuch war ein quasi kultur-pädagogischer. Die intellektuellen Kollegen in seiner Wahlheimat Frankreich sollten die Waffen der Nation kennenlernen, die sich einem militärisch unbesiegbaren Napoleon erfolgreich widersetzt hatte. Als Liebhaber der französischen Kultur will er deren Glauben an die intellektuelle Überlegenheit gegenüber den germanischen Barbaren auf der anderen Seite des Rheines ein wenig stören. Hierzu demonstriert Heine an der Figur Martin Luthers, dass von diesem Manne eine Revolution ausging, die den Vergleich mit der französischen von 1789 nicht zu scheuen braucht. Der Reformator habe die Wege gebahnt, auf denen anschließend Kant und später Hegel ihren Eroberungszug im Weltreich der Vernunft fortgesetzt hätten. Gegen die Radikalität der geistigen Haltung eines Luther nehme sich die politische Revolution der Franzosen wie ein bloßes Bühnenspektakel aus. Worin besteht nun für Heine das Übergroße an Luthers Leistung für Kultur und Gesellschaft in Deutschland? 

Dazu umreißt er die Person Luthers in der damaligen historischen Situation. Der Kampf nämlich gegen den römischen Papst habe auf wechselseitigem Missverstehen beruht. Der deutsche Bergmanns-Sohn hatte keinerlei Zugang zum Herrschaftsbewusstsein eines Leo X. Dabei darf man in diesem Beruf nicht das sehen, was heute damit soziologisch impliziert ist; denn Bergleute waren nicht Lohnarbeiter, sondern Teilhaber an den Ausbeutungsrechten von Bodenschätzen und damit Angehörige einer in vieler Hinsicht selbständig-verantwortungsbewusste sozialen Gruppe. Luthers Gegenspieler, Sohn des Lorenzo il Magnifico, war als Medici-Spross der Prototyp eines Renaissance-Fürsten. Er war ein Bewunderer Raffaels und ein Fürst, der seinen Machiavelli gelesen und verstanden hatte. Den kleinen Mönch aus Wittenberg nahm er in keiner Weise als Gefahr für die Kirche zur Kenntnis. 

Dieser geborene Machtmensch sah seine Rolle in der Aufrechterhaltung eines römischen Herrschaftsmodells, mit dem die katholische Kirche zum Global Player geworden war. Leo X. besaß die Souveränität eines Mannes der Hocharistokratie. Als Kirchenoberhaupt stand er für die Einhaltung der hierarchischen Ordnung ein. Das bedeutete keinerlei Gegensatz zu einer Genusshaltung, die den irdisch-leiblichen Bedürfnissen weltmännisch Rechnung trug. Man ließ die Rechtgläubigen generös sündigen und gewährte jedem Reuigen gegen Ablass-Zahlung die Absolution, gestaffelt nach Schwere des Vergehens. Morde kosteten eben etwas mehr. Unter Leo X war der Ablasshandel ein von Profis weltweit verbreitetes System, mit dem das Sündenkapital ethisch gewaschen wurde. Der Vatikan ‚machte in Immobilien‘, ließ einen Petersdomes zur höheren Ehre der Römischen Kurie bauen und re-investierte in Kunst. 

Diese neue Renaissance-Welt war einem Dominikaner-Mönch wie Bruder Martinus, der hier noch zutiefst vom mittelalterlichen Ordnungsdenken beherrscht war, als Teufelswerk. Luther erblickte in so viel spiritueller Lauheit nicht das, was der Geist Roms auch war, ein Versuch, den moralisch überfordernden Anspruch des Christentums mit der Triebhaftigkeit des Menschen zu versöhnen. Solche Kompromisshaftigkeit aber war unvereinbar mit der intellektuellen Radikalität, die Martin Luther eigen ist. Der Protestant Luther bezieht eindeutig Stellung: für den Geist und gegen den Leib. Der Papst wird ihm so zum ‚Leibhaftigen‘, der niemand anders als den Teufel verkörpern kann. 

Diese manichäische Radikalismus wird hörbar in Luthers lauter Vorliebe für den sprachlichen Fäkalbereich. Erich Fromms Lutherportrait zeigt, was gemeint ist, wenn die Tiefenpsycholgie von einer ‚analen‘ Charakterdisposition spricht. Heine erkennt darin zudem eine ...

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