Die Tiefenpsychologie als Wissenschaft steckt in mancher Hinsicht noch in den Kinderschuhen. Sie ist kein Spross aus akademischen Hause. Bevor Freud seine Psychoanalyse zur neuen Methode erhob, hatten Dichter und Philosophen ihm vorgearbeitet. Wie gut Sigmund Freud in der schöngeistigen Literatur zuhause war, zeigt sich uns in all seinen Schriften. Seine Fallgeschichten waren novellistische Kunstwerke; selbst ihre ‚triebtheoretischen' Einkleidungen tun dem bis heute kaum einen Abbruch.
Alfred Adler stand von seiner geisteswissenschaftlichen Denkungsweise her in noch unmittelbarer Nähe zur Kunst. Er verweist voller Bewunderung auf seine Vorbilder zu einer Ganzheitsbetrachtung des menschlichen Lebens. Die Romane Dostojewskis waren für ihn die Hohe Schule phänomenologischer Schau. Bei Adler heißt es sinngemäß, unser besseres Sehen, die bessere Wahrnehmung verdanken wir den Malern. Unser besseres Hören und damit die feinere Modulation unseres Sprechorgans erwarben wir von den Musikern. Die Dichter haben uns Denken, Sprechen und Fühlen gelehrt. (Der Sinn des Lebens, S.148f.)
Insofern zeigt sich eine Nähe von Psychotherapie als Deutungskunst und dem, was sich zwischen Kunstliebhaber und Werk ereignet. Deshalb greifen wir auf die Problemstellungen einer Ästhetik zurück, um das Geschehen in der therapeutischen Situation zu beleuchten. Hier wie dort geht es offenbar weniger um die Analyse als um eine Gesamtschau unserer Weltbeziehungen. Was Nicolai Hartmanns Ästhetik (1953) von philosophischer Seite erschließt, erscheint uns durchaus praxisrelevant. Hier heißt es:
Alles analysierende und psychologisierende Verstehen reicht hier nicht zu, kommt auch zu spät. Auf den intuitiven Blick kommt es an, der im Fluge das Wesentliche erfasst und es mitsamt seinen äußeren Anzeichen festhält. Wie aber bringt der Mensch solche Intuitivität des Hinblickens auf, die zugleich ein Durchschauen und ein liebevolles Herausheben des Menschlich-Wesenhaften und Wertvollen ist? ... Wir wissen, dass es im Leben am ehesten dem Liebenden gelingt, einen Menschen so anzuschauen. Der liebende Blick hat die innere Gefühlsverbundenheit mit dem Gegenstand der Liebe. Auf diese Gefühlsseite kommt es an, sie ist das erschließende Moment in dem Akt der Schau. Dass der Maler und der Dichter es im Grunde ebenso machen, ist kein Geheimnis. (S. 254)