Hans Christian Andersen – Es ist schon ein Schicksal, wenn man sogar im Enddarm zu viel Phantasie hat

Sapho mit Stift und Buch

Die geheimnisvolle Kraft der Phantasie

Jüngst bekam ich eine Biographie über Hans Christian Andersen geschenkt – ein schöner Leinenband von 725 Druckseiten. Ihr Autor, der dänische Journalist Jens Andersen, wurde hierfür mit dem Georg-Brandes-Preis geehrt. Brandes hatte Friedrich Nietzsche schon früh in Dänemark bekannt gemacht. Und so sah er auch als einer der ersten, dass man es bei dem umstrittenen Verfasser dieser ungewöhnlichen Geschichten wie das des Hässlichen jungen Entleins oder Des Kaisers neue Kleider mit einem großen Dichter zu tun hatte. 

Diese beiden kleinen Märchen zeigen die Polaritäten, zwischen denen sich der Lebensweg des 1805 geborenen Hans Christian Andersen bewegte. Er war das Schwanen-Ei im Entennest. Was dem hässlichen Entlein im Märchen widerfährt, ist im Vergleich mit der realen Lebenssituation seines Schöpfers noch recht harmlos umschrieben. Denn Odense, Andersens Geburtsort auf der Halbinsel Fünen, unterschied sich vom restlichen Dänemark insbesondere darin, dass hier der Nachwuchs in der Regel unehelich zur Welt kam. So auch Hans Christian. Gelegenheitsprostitution galt in jener Zeit des gerade einsetzenden Siegeszuges einer kapitalistischen Geldwirtschaft als nächstliegender Lebensunterhalt für Mädchen. Hans Christians Mutter war es schließlich im 32. Lebensjahr noch gelungen, den um 10 Jahre jüngeren Hans Andersen zur Heirat zu bewegen. Der hätte auch seine Vaterpflichten durch die einmalige Zahlung von 6 Gulden in die Stadtkasse abgelten können. Aber dieser Mann, ein schmächtiger Schuster von zarter Gesundheit und Anhänger der französischen Revolution, willigte ein, dem künftigen Dichter nach Kräften die Existenz zu ermöglichen. Für seinen Sohn wurde Hans Andersen zur eigentlichen Mutter. 

Das bedeutete trotzdem eine Kindheit in einer Welt der Verwahrlosung und des Kampfes ums Dasein. Vom Schicksal weder mit Schönheit noch mit Nahrung verwöhnt, entdeckte das hässliche Entlein – der Junge war hager und groß, von wenig anmutiger Gestalt –, dass dem Leben am Abgrund nur im Streben nach Unabhängigkeit zu entkommen ist: Wo nichts zu holen war, musste man Geber werden. Dazu wiederum brauchte es Gaben, die nichts kosten durften. Eine schöne Stimme war ihm per Geburt verliehen. Märchen, aber auch manch anderes noch lernte man bei den Wäscherinnen am Fluss kennen. Zu diesem Berufsstande zählte auch die Mutter. Deren Geschichten wussten von Leuten seinesgleichen, die sich allesamt durch die Härten des Erdendaseins hatten durchbeißen müssen. Doch am Ende gelangte man dann in den Besitz eines eigenen Reiches. Solche Mythen gaben der Kinderseele jene Art der Nahrung, die sich mit der Phantasie eines empfindsamen Knaben beliebig vermehren ließ. 

Hans Christian Andersen entdeckte bald, wie man mit einem schönen Sopran auch die härteste Seele erweichen konnte. Als virtuoser Fabulierer errang er die Aufmerksamkeit seiner Mitmenschen, verlockte sie in Welten, die das Leben in der wirklichen Welt erträglicher machten. Die Phantasie wurde zum Medium, ...

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