Anton Čechov: Ein Fall aus der Praxis – Der Dichter als Psychotherapeut

Sapho mit Stift und Buch

Der Arzt in der Rolle des Psychotherapeuten

Čechovs kleine Erzählung Ein Fall aus der Praxis ist eine eigentümliche Geschichte. Sie kommt zunächst wie ein nüchterner Bericht daher, stellt Sachverhalte klar, um dann chronologisch die Entwicklung eines Geschehens aus dem Munde des Berichterstatters an den Leser weiterzugeben. Nur selten fügt er knappe Rückblenden ein. So erfahren wir über den Protagonisten Korolev, dass er als Stationsarzt nach Dienstschluss sich unwillig auf die Bahnreise machen muss. Angefordert von der Ljalikovschen Fabrik hatte man den Professor, der zu so später Stunde die Sache aber lieber an Korolev delegiert. 

Schon mit diesen rudimentären Angaben entsteht atmosphärisch das Bild einer Lebenswelt, in der offenbar vom Fabrikwesen eine geheimnisvolle Macht ausgeht. Dazu lässt der Autor seinen Erzähler Wendungen benutzen, wie sie in dieser neuen Welt gesprochen werden. Hier geht die Macht nicht mehr einfach von den Mächtigen aus; von den Sachen selbst, von der Ljalikovschen Fabrik, gehen magische Kräfte aus, die das Erleben aller bestimmen. Auch bei uns gab vor hundert Jahren die ‚Fabrik’ dem Proletarier sein Geld; heute kann der Nachfahre der Arbeiterklasse auf ein Bedingungsloses Grundeinkommen hoffen.

Der Inhalt unserer Geschichte von vielleicht zwanzig Buchseiten ist schnell berichtet. Geschichtlicher Hintergrund ist das Zarenreich, das nach dem Ende der Leibeigenschaft (1861) sich sozial verwandelt. Besonders im Westen des Riesenlandes entstehen überall Fabriken und ein Netz von Eisenbahnstrecken durchzieht das Land. Von hier geht eine Sogwirkung aus auf die in der Landwirtschaft überzähligen Massen; so wie heute Migranten aus den Krisenregionen sich zu uns retten wollen, nehmen die wachsenden Städte das „Menschenmaterial“ auf, das zu Hungerlöhnen in die Fabriken strömt. Innerhalb von wenigen Jahrzehnten zersetzt der Kapitalismus den Feudalstaat, vergleichbar der Metamorphose des Deutschen Reichs in der sogenannten Gründerzeit. 

Vorangegangen war in Russland ein verspäteter Aufklärungs-Schub, eine geistige Infektion, die von Deutschland und Frankreich aus die Schicht der Intellektuellen und auch Teile des Adels in Gärung versetzte. Wie durch ein Wunder entwickelte sich in den Städten eine literarische Produktivität, deren Sprachgewalt alles in den Schatten stellte, was in Europa bis dahin gewachsen war. Diese Literatur stellte sich neben die überkommene orthodoxe Staatskirche, der bisher lebensprägenden Kraft in Stadt und Land. Innerhalb der geistig führenden Schicht tat sich damals ein Graben auf, über den hinweg sich seit 1830 „Slawophile“ und die sog. „Westler“ erbitterte ideologische Gefechte lieferten. Die ersteren bestanden auf einen russischen Eigenweg. Ein Amalgam aus der heiligen Orthodoxie samt Zarismus und Bauerntum sollte das einigende Band eines multinationalen Slawentums knüpfen, eine Art Kreuzzugsideologie gegen den Geist eines dekadenten Westen, der in den Städten wucherte. 

Warum diese historisch-kulturellen Hinweise hier vorangestellt sind, erschließt sich nach den ersten Seiten der Lektüre. Lesend begleiten wir die Visite eines Moskauer Spitalarztes. Dessen Weg führt per Eisenbahn aus der industrialisierten Metropole heraus, um nach einigen Kilometern bäuerlichen Umlandes an einer Station vom Kutscher der Ljalikovs aufgenommen zu werden. Ihr Ziel: eine ausgedehnte Ansammlung von Fabrikgebäuden, wo eine ihm unbekannte Patientin ihn erwartet. Liza ist die zwanzigjährige Tochter des schon verstorbenen Fabrikanten. Deren unbekannte Krankheit wurde von mehreren Ärzten bisher vergeblich behandelt. Die Gouvernante Christina Dmitrievna präsentiert sich als gebildet und klärt den neuen Arzt über die Kranke auf. 

Während seiner kurzen Visite kann Korolev nur mühsam eine Abneigung zähmen gegen alles, was ihm begegnet. Im medizinischen Sinne ist Liza nicht krank, so dass für ihn hier nichts zu tun bleibt. Doch die Verzweiflung der hilflosen Mutter bewegt ihn, die Nacht im Hause der Ljalikovs zu bleiben. Er macht einen Spaziergang, und vor der hereinbrechenden Morgendämmerung dieser kurzen Nordsommer-Nacht wendet er sich erneut Liza zu. Der Leser erfährt, dass auch sie selbst sich nicht als Kranke versteht. Was ihr fehlt, ist offenbar ein Mensch, mit dem sie ihre Gefühle teilen kann. Am Morgen verabschieden Tochter und Mutter gemeinsam den ärztlichen Besucher. Vor uns Lesern ersteht ein Bild: Auf der Freitreppe beide Frauen im strahlend klaren Licht der Mai-Sonne; Liza im weißen Kleid, eine Blume im Haar.

Die Welt der Fabrik - Erstbegegnung mit der Patientin
Was lapidar im Titel der kleinen Erzählung als Fall aus der Praxis angekündigt ist, soll uns nun als Paradigma einer psychotherapeutischen Situation dienen. Čechov benötigt nur wenige Buchseiten, um vor dem Leser umfangreiche tiefenpsychologische Erkenntnisse sichtbar werden zu lassen. Dieser Autor versucht nicht, sondern macht das Leiden der Patientin sichtbar. Čechov schildert eine alltägliche Begebenheit (eine Begegnung von Arzt und Patientin) auf eine Weise, die den Leser dazu nötigt, sein Noch-nicht-Verstehen zu ertragen und mit Geduld sich vom Dichter führen zu lassen. Er wird für sein Entgegenkommen mit dem Gefühl belohnt, mit zwei Menschen bekannt zu werden, die die Hoffnung noch nicht aufgegeben haben, unsere Erde könne doch zur Heimat für uns werden.

Im folgenden lassen wir uns von Čechov in die Welt dieser zwei Menschen einführen. Wir gehen dabei nicht textimmanent (in der Sprache der Literaturwissenschaft) vor, sondern tragen an das dargestellte Geschehen unsere psychotherapeutische Optik mit heran. Jene Liza ist für uns ein Mensch wie andere Leidende, die uns in der Praxis aufsuchen. Und der Arzt Korolev erscheint uns als Therapeut, dessen Qualitäten wir bewundern.

Was erfahren wir nun über den Menschen Korolev und insbesondere über seine Therapeutenpersönlichkeit. Vorgestellt wurde er uns als einfacher Stationsarzt, den sein Chef nach Feierabend noch auf einen ihm selbst wohl lästigen Hausbesuch schicken kann. Hier sollen die Bedürfnisse einer offensichtlich einflussreichen Klientel befriedigt werden, vergleichbar dem, was früher nur adligen Kreisen zugebilligt wurde. Entsprechend verstimmt macht Korolev sich auf die kurze Bahnfahrt. Damit taucht zum ersten Mal das Kontrastmotiv auf, das die kleine Erzählung strukturiert: Der Bereich des Natürlichen und die befremdende Welt einer alles durchwuchernden Industrie. Die Eisenbahn durchschneidet und verbindet zugleich das Nicht-Zusammengehörige. Die Sphäre des Industriellen scheint wie ein Fremdkörper in die Landschaft zu ragen. Aus der Stadt geht es unmittelbar über ins Bauernland, um dann wieder zur Fabrik zu führen. Über Korolevs Beziehung zu alledem konstatiert der Erzähler:

Er war in Moskau geboren und aufgewachsen, kannte das Land nicht, hatte sich nie für Fabriken interessiert und auch nie eine besucht. Es geschah jedoch des Öfteren, dass er etwas über Fabriken las, bei Fabrikanten zu Gast war und sich mit ihnen unterhielt. Wenn er von ferne oder aus der Nähe eine Fabrik sah, musste er jedes Mal daran denken, dass von außen alles ruhig und friedlich aussah, dass es aber drinnen wahrscheinlich hoffnungslose Unwissenheit gab, stumpfsinnigen Egoismus der Besitzer, ungesunde Tätigkeit der Arbeiter, Zänkerei, Wodka und Ungeziefer.

Viel mehr als das, was hier über Korolevs persönliche Erfahrungen mit der realen Lebenswelt seiner Tage angedeutet wird, dürfte ein Jungtherapeut unserer Tage von der Arbeitswelt auch nicht kennengelernt haben. Korolevs romantisierende Neigung zur Natur, zu der damals auch die bäuerliche Welt noch zählte, teilen auch wir noch. Bei Čechov ist es eine Welt, in der es noch einen lebendigen Gott gibt. Diese Einheit kommt in den schlicht berichtenden Sätzen des Dichters ganz unmittelbar zur Erscheinung, wenn es beispielsweise heißt:

Ihn bezauberten der Abend, die Gutshöfe und Landgüter zu beiden Seiten der Straße, die Birken und diese ruhige Stimmung ringsum; es schien, als wollten sich jetzt, am Vorabend des Feiertages, zusammen mit den Arbeitern auch das Feld, der Wald und die Sonne ausruhen und vielleicht beten ...

Der Fabrik‘ begegnet Korolev zuerst durch den Kutscher, der ihn am Bahnhof aufnimmt. Eine Pfauenfeder am Hut kündigt ihn an als Vertreter seiner Herrschaften. Entsprechend rücksichtslos verdrängt das Gefährt die ihm entgegen strömenden Arbeitermassen vom Wege, die von der Nähe des Reisezieles zeugen. Hinter dem Fabriktor kein Grashalm, dafür fünf gewaltige Fabrikgebäude mit Schornsteinen – über allem lag eine graue Schicht wie von Staub. Über das Wohnhaus des Fabrikeigentümers heißt es, dass es mit grauer Farbe frisch gestrichen war; hier gab es einen Vorgarten mit staubbedeckten Fliederbüschen, auf der gelben Freitreppe roch es stark nach Farbe. 

So viel Hässlichkeit ruft in Korolev eine latente Abwehr wach. Seiner beobachtenden Aufmerksamkeit entgehen auch geringscheinende Widersprüchlichkeiten nicht. Er verfügt über einen inneren Maßstab, der den Blick auf seine Umgebung leitet, indem ein ihm eigenes Gefühl sie nach Wert und Unwert in einem entsprechenden Licht erscheinen lässt. Dieses unwillkürlich sich von der Welt angemutet, angezogen oder abgestoßen Fühlen leitet seine Aufmerksamkeit. Diese jedoch ist nicht irgendeine bloß affektive Reaktivität, sondern sie weist eine emotional aktive Qualität auf, eine Wachheit seines Gemütes im Sinne einer wertenden Sachbezogenheit. Beim Arzt spräche man vom „Diagnostischen Blick“.

So spürt Korolev schon bei der ersten Begegnung ... 

weiterlesen im PDF