Mein Weg aus dem Dunkel, so lautet der Titel der Lebensgeschichte der in früher Kindheit erblindeten Helen Keller. Worüber diese zudem noch gehörlose Autorin berichtet, gibt uns, die wir mit der Sprache groß geworden sind, radikale Einblicke in die Funktion dieses menschlichsten Werkzeuges des Menschen. Nach erst 19 Lebensmonaten ereilte Helen Keller ein grausames Schicksal: Sie überstand eine Hirnhautentzündung, aber büßte hierbei Seh- und Hörvermögen ein.
Will man die existenzielle Bedeutung einer solchen Katastrophe verstehen, dann gilt es mehr als irgendeine ‚Psychologie des Kleinkindes‘ zu Rate zu ziehen. Helen Kellers Schicksal belehrt uns darüber, dass hier noch von ganz anderen Sachverhalten die Rede sein muss als von Entwicklungspsychologie, Neurowissenschaften oder auch tiefenpsychologisch inspirierten Erklärungen. Helen Kellers Entwicklungsstörung betrifft geistige Dimensionen. Wo es um den Geist geht, müssen wir die Rolle der menschlichen Sprache dabei adäquat erfassen.
Nun ist das Schicksal Helen Kellers ein Extremfall. Uns Psychotherapeuten begegnen in der Regel andere Formen des Leidens an der Sprache. Viele Patienten zweifeln daran, ob Worte wirklich das zum Ausdruck bringen können, was wir mit den anderen und auch mit uns selbst erleben. Auch so mancher Psychotherapeut glaubt nicht mehr an die Talking Cure, als die Freuds Psychoanalyse einst angetreten ist, und sucht vermeintlich direktere Wege zum Ziel.
Diese Zweifel an der existenziellen Bedeutung der Sprache wurden erstmals in der Romantik laut. Ein Jahr vor dem Erscheinen von Helen Kellers Weg aus dem Dunkel als die Geschichte einer Gesundung durch Sprache verfasste Hugo von Hofmannsthal den Bericht von einer Krankheit, die er als Sprachzerfall begriff. Im sogenannten Lord-Chandos-Brief bekundet dieser damals verheißungsvollste Jungpoet, wie in ihm die Einheit zwischen Natur und Kunst, Körper und Seele, Sprache und Empfindung zerbrochen sei.
Es ist gewiss kein Zufall, wenn zur selben Zeit Sigmund Freud nach einem neuen Zugang zum Menschen suchte, durch den er das Problem des seelischen Unbehagens des neuzeitlichen Individuums ergründen wollte. AuchLebensphilosophie, Phänomenologie und Existenzphilosophie gingen damals neue Wege. Man wollte weg von den metaphysischen Systemen. Den ‚Dingen‘ selbst sollte die Aufmerksamkeit gelten, enttäuscht von der Baufälligkeit der idealistischen Luftschlösser. Doch der Hauptstrom der Forschung folgte in den methodischen Bahnen, die der Siegeszug von Naturwissenschaft und Technik als Erfolgsrezept nahelegte. Seelisches, insbesondere alles, was an den idealistischen Geist-Begriff der älteren Philosophie gemahnte, wurde zum bloßen Anhängsel des Materiellen erklärt.
Die Frage nun, die unsere Lektüre der Biographie leitet, geht von einem Paradox aus. Im Titel ihrer Autobiographie kündigt sich ein eigentümlicher Sachverhalt an: Hell wurde es für die blinde Helen Keller nicht dadurch, dass sie den Seh-Sinn durch ein medizinisches Wunder wiederbekam. Ihr Sehvermögen erlangte sie mit dem Erlernen der Sprache. Was die Worte für uns leisten, das scheint uns derart alltäglich, dass wir das existenzielle Wunder des Sprechen-Könnens dabei schlicht übersehen. Doch unter dem Fraglos-Selbstverständlichen finden sich oft die des Fragens würdigen Probleme. Sie sind von ihrer Natur her das Material, aus dem sich philosophische Fragen stellen. In den Wissenschaften werden sie nicht mehr gesehen. Denn dort kaum anders als in der Neurose: Man glaubt endlich die Problemlösung gefunden zu haben; doch die vermeintliche Lösung verbaut jede Sicht auf die Problematik selbst und verhindert dauerhaft jedes Weiterkommen in der Sache. Man sucht konsequent gerade an den Stellen, wo das Gesuchte gerade nicht zu finden ist.
Unsere Frage also lautet: Was leisten die Worte für das menschliche Sehen? Vor den Antwortversuchen gilt es jetzt, die Beschaffenheit des ‚Untersuchungsobjekts’ bekannt zu machen. Dazu die kurze Geschichte von Helen Kellers Wegen ins Leben.
Ein vielversprechender Anfang
Die Kindheit Helen Kellers fällt in das Ende des 19. Jahrhunderts. Sie wächst auf im privilegiert-geborgenen Rahmen einer US-amerikanischen Familie der Oberschicht. Ihr Vater – Zeitungsverleger in einer Kleinstadt der Südstaaten – ist ein zweites Mal glücklich mit einer um Vieles jüngeren schönen Frau verheiratet. Als aufgeklärte Eltern widmet man sich gemeinsam der Erziehung des geliebten Kindes; natürlich befreit diese kleine Familie ein vielköpfiges Personal von den alltäglichen Lasten. Dazu bildet ein weiträumiges Anwesen den gesellschaftlichen Treffpunkt einer Gruppe liberaler Bürger. Hier wächst Helen in freier Atmosphäre auf, in einer Umgebung voller Anregungen, die das lebhaft-vitale Kind begierig in sich aufnimmt. In der autobiographischen Perspektive erinnert sie: Schon als Baby soll ich häufig durch meinen heftigen, eigenwilligen Charakter aufgefallen sein. Alles, was ich andere tun sah, wollte ich durchaus auch tun. (S.15)
Helen war offenbar ein Kind, das sich seinen Platz in der Welt erobern wollte. Dazu passt die Episode, nach der die gerade gut Einjährige zur Begeisterung einer Tischgesellschaft so etwas wie tea, tea, tea! verlauten ließ. Wir sehen hier schon den künftigen Star der Familie, der mit Lebhaftigkeit und Charme die Mitmenschen für sich einzunehmen verspricht. Derartige Episoden könnten den Beobachtungen der neueren Säuglingsforschung entnommen sein, wie sie Daniel N. Stern eindrücklich geschildert hat.
Was Helen Kellers Autobiographie über die Zeit vor ihrer Erblindung berichtet, stammt aus einer Phase, in der sie noch nicht umfassend über die Sprache verfügte...