Arthur Miller: Ich brauch dich nicht mehr – Ein Beitrag zum Problem der „Triangulation“

Sapho mit Stift und Buch

Der Schriftsteller als Hüter und Hirte der Menschheit

Arthur Millers (1915-2005) Short Story Ich brauch dich nicht mehr ist nicht das, was wir üblicherweise unter einer Kurzgeschichte verstehen; eher schon kommt sie dem nahe, was bei uns als Novelle bezeichnet wird. Im vorliegenden Falle skizziert sie auf knapp 50 Seiten eine „unerhörte Begebenheit“. Mit letzterer Wendung kennzeichnete Goethe die Eigenart der Novellen-Form. Um einen solchen Vorfall herum weben sich dann die Fäden, an denen entlang sich dem Leser irgendwann die Bedeutung des Vorgefallenen erschließt. 

In Arthur Millers Short Story ist der verzweifelte Ausruf Ich brauch dich nicht mehr die ungehörige Botschaft, die der 5-jährige Martin seiner Mutter an den Kopf schleudert. Dieser erregte Gefühlsausbruch trifft aber weder bei ihr noch beim älteren Bruder auf Verständnis. Auch beim Vater kostet es einige Zeit, bis er begreift und seinen Anteil an der Begebenheit erkennt. Vielen Lesern dieser Geschichte scheint es ähnlich ergangen zu sein: Denn Arthur Millers Ich brauch dich nicht mehr erlitt offenbar das Schicksal des Nicht-erhört-Werdens. Sie zählt nicht zu den Werken, die ihm den Rang eines der bedeutendsten Schriftsteller der USA in der Mitte des 20. Jahrhunderts verschafft haben. Als Autor der Dramen Tod eines Handlungsreisenden oder Hexenjagd errang er Bekanntheit über Amerika hinaus. Doch es wird sich im Folgenden zeigen, dass seine unscheinbare Erzählung nicht nur ein Kleinod biographischer Selbsterkenntnis ist, sondern darüber hinaus ein erhellender Beitrag zur Rolle des Schriftstellers in der Kultur.

Die Welt eines fünfjährigen Knaben
Mit den ersten Sätzen zieht uns der Autor unvermittelt in das Welterleben des kleinen Martin: 
Mehrere Male in den vorausgegangenen Tagen war er nicht geradezu gewarnt, aber auf eine gewisse, unübersehbar absolute Weise belehrt worden, dass Gott in dieser Woche das Schwimmen am Freitag verbot. Und heute war Freitag. Er hatte den Ozean mehrmals am Tag beobachtet, und tatsächlich war die See immer rauher und rauher geworden, und das Wasser hatte eine seltsame Farbe angenommen. Nicht grün oder blau, sondern irgendwie grau und an manchen Stellen sogar schwarz, und jetzt, da das Wasser von Sünden erfüllt war, schlugen die Brecher so hart auf den Sand, dass der Betonvorsprung, auf dem er saß, ein leichtes Beben durch sein Rückgrat sandte. Unter dem Strand musste es eine Verbindung geben, bis hier herauf, wo die Straße endete.

Mit dieser Episode stehen wir Leser vor einer schwierigen Verstehens-Situation. Auch wenn wir noch nicht wirklich erfasst haben, worum es demnächst gehen soll, so haben wir doch wahrgenommen, dass es sich um Bedeutungsvolles handeln muss. Was können wir nun in und zwischen diesen Zeilen lesend in Erfahrung bringen? Offenbar handelt es sich um einen gespannt beobachtenden Jungen am Meeresstrand. Er scheint intensiv beschäftigt mit einem Problem, das gravierend ist: Gott ist mit im Spiel; es ist Freitag – genauer, es ist der Beginn des Sabbat. Hat er den Willen Jehovas richtig verstanden, richtig befolgt? Der Beunruhigte ist ein überaus aufmerksam-forschender Beobachter, der jegliche Veränderung seiner Umgebung wahrnimmt. Zudem ordnet er allem Bedeutung zu, stellt Überlegungen an, die kindlich oder tief religiös anmuten. Wir stehen zunächst etwas irritiert vor dieser rätselhaften Situation.

Unsere Assoziationen dürften ungefähr das enthalten, was ein Leser – Interesse und guter Wille vorausgesetzt – an Textverständnis erzielen kann, ohne sofort etwas hineinzudeuten. Aber der kurze Abschnitt legt uns noch keine Deutungsspur vor die Füße. Die schlichte Sprache Millers ohne irgendwelche Manieriertheiten steht einem spontanen Verstehen nicht im Wege. Seine eigentümlich kindlich direkte Bildhaftigkeit wirkt wie die Aufforderung, dem Jungen in seiner Welt gerecht zu werden...

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