Magische Momente einer Zoomkonferenz

 

Die nachfolgenden Überlegungen beziehen sich auf ein konkretes Erlebnis: Eine Gruppe von etwa 40 noch nicht Zoom-gehärteten Menschen bemühte sich, medial-vermittelt, ein Rundgespräch zu führen. Grundlage war ein Text von Josef Rattner über Magie im Menschenleben.

Auf den ersten Blick ist wirkt es so, als ob wir uns auf nebulös-esoterisches Terrain begeben. Aber auch der moderne Mensch ist in vielen Lebensbereichen emotional von magisch-animistischer Weltanschauung affiziert. Das ist erklärungsbedürftig. Was ist Magie, worin bestehen magische Kräfte? Der Titel des Aufsatzes verweist auf eine Allgegenwart des Magischen. Wenn das so ist, dann mussten wir auch in unserer Zoomkonferenz diesem Phänomen begegnet sein.
Das erste Anzeichen, dass auch hier ‚geheimnisvolle Kräfte' im Spiel sind, war für mich der Moment, als mich mein Doppelgänger Bildschirm-füllend anblickte. Vor dieser wenig angenehmen Konfrontation mit dem Gesicht eines 70jährigen konnte ich mich retten, indem ich etwas verstört die Erlaubnis erteilte, dem Meeting beizutreten. Mein Konterfei verschwand, um nun aber für alle sichtbar zu werden. Auf meinem Bildschirm war ich jetzt nur noch im wohltuenden Kleinformat zu sehen - als einer von vielen. Weitere Entspannung stellte sich ein, indem ich andere Leidensgenossen um mich herum erblickte. Auch sie wirkten nicht gerade tiefen-entspannt. Ich weiß, so mancher hat einiges mehr an Gewöhnung an dieses Medium, das bei mir noch solche Auswirkungen zeitigt. Vielleicht ist jedoch meine noch nicht vom Smartphone abgehärtete Seele ein brauchbarer Indikator für das Magische in der beschriebenen Situation.
Ich mache von hier einen Sprung in theoretische Gefilde. In unserem Grundlagentext wird auf Sartres Philosophie verwiesen, auf seine Theorie der Emotionen. Darin geht es um den eigentümlichen Sachverhalt, dass von unserer Leiblichkeit offenbar so etwas wie magische Wirkungen auf die anderen und auch auf uns selbst ausgehen können. Dieser Leib ist gewissermaßen unser Empfangsorgan für die entsprechen ‚Kraftfelder', die Emotionen. In einem anderen Konzept Sartres, der Theorie des Blickes, geht es um die Konkretisierung dieses Geschehens. Was sich beim Anblicken und Angeblickt-Werden zwischen Menschen ereignet, geschieht wie durch Zauberkräfte und ist ungemein wirkmächtig. Jedoch, wo lägen die Ansatzpunkte für ein Etwas, das wie eine Kraft von außen auf unser Inneres einzuwirken scheint. Sie wird nicht sichtbar und doch werden bei alledem nachweisbare Wirkungen hervorgerufen. Ich jedenfalls verspürte ein deutliches Unbehagen beim plötzlichen Anblick meines Portraits, das ich nicht als Symptom meiner neurotischen Über-Empfindlichkeit abqualifizieren möchte.
Wirkungen „hervorrufen" kann man jedoch nur, wenn dort, wo sie sie auftreten, schon irgend etwas in Bereitschaft liegt. Was in besagter Situation hervortrat, nennen wir Affekt. Affekte sind nun Begleiterscheinungen irgendeiner Beunruhigung unseres Organismus, die sich in den affektiven Emotionen lärmend Gehör verschaffen. Sie sagen uns etwas, dessen Sinn unser ‚Hörvermögen' nicht sofort entschlüsseln kann. Dafür verhält sich aber unser Leib schlagartig so, als habe er einen eindeutigen Befehl erhalten. So kann z.B. ein Schamaffekt unvermittelt meinen ganzen Leib (magisch?) verwandeln: Ich erröte, möchte im Boden versinken, mir schwindelt. Das alles sind offenbar gewaltige Mächte, die irgendwie Herrschaft über uns gewinnen. Doch wer übt diese Herrschaft aus? Die anderen? Mein Körper? So kommt es einem jedenfalls im Moment des Affiziert-Seins vor.
Vermutlich lässt sich das Phänomen so verstehen: Im Schamaffekt erlebe ich meinen Leib wie ein Ding, über das gerade Macht ausgeübt wird. Etwas droht mich zu kompromittieren. Ich möchte mich in Luft auflösen, im Boden versinken vor .... Doch was ist dieses Etwas, was sich bedroht fühlt? Und wer droht ihm?
Festhalten lässt sich vorerst: Mein Ich, meine Person oder, wie man es auch nennen mag, scheint irgendwie zerfallen in zwei Hälften. Eine davon ist mein Bewusstsein. Dieses ist im Moment des Sich-Schämens überzeugt davon, dass die andere Hälfte, mein Leib, jetzt besser unsichtbar sein sollte.
Nun zu Sartre. In seiner Theorie des Blickes sagt er, dass es bei der Begegnung zweier Menschen, die sich anblicken, immer um die Frage geht, wer von beiden ist oben und wer wird unten sein. Das ist Sartres Interpretation von dem, was bei Hegel als das Grundverhältnis zweier Bewusstseine bezeichnet wird. Zwischen denen nämlich gehe es um die Frage: Herr oder Knecht? Das klingt in unseren Ohren ziemlich wunderlich, bezeichnet aber einen Sachverhalt, den jeder eigentlich ständig erleben kann. So heißt es in einem Schlagertext: „Auf meiner Ranch, bin ich König, die weite Welt, die lockt mich wenig." Diesen Titel aus den Charts der 60er Jahre kennen nur noch Leute meines Alters, aber seine Botschaft gilt wohl immer noch. Es ist offenbar der Mitmensch, der die potenzielle Allmacht meines Bewusstseins zuweilen so schmerzhaft einschränkt, dass es mich in den Schutzraum meiner vier Wände zieht.
Sartre konkretisiert das Geschehen zwischen zwei Bewusstseinen, indem er vom Blick spricht. Damit werden diese nicht wie etwas Freischwebendes betrachtet, sondern der menschliche Leib kommt mit ins Spiel. Ohne das Anblicken und zugleich das Angeblickt-Werden käme dieses Verhältnis gar nicht zustande, denn körperlose Bewusstseine gibt es nicht. Aber unser Bewusstsein kann es sich so einrichten, als ob es unleiblich existieren könnte. Ungestört durch den Mitmenschen kann es sich als Subjekt imaginieren, während die abwesenden anderen in die Objekt-Position verwiesen sind.
Die Hegel'sche Metapher von Herr und Knecht wird damit fassbarerer; sie muss im Wesen des menschlichen Blickes gegründet sein. Unser menschlicher Sehsinn ist es offenbar, der erst die Dinge zu dem Etwas macht, das sie für uns sind, zu dem, was sie uns sagen. Unser Blick teilt allem seine Bedeutung für uns zu. Weil das so ist, laufen wir, anders als die Tiere, nicht ständig nackt durch die Gegend; denn die Kleidung ist unser Schutzmantel, mit dem wir der Macht des Blickes der Anderen Grenzen setzen.
Wenn wir uns schön machen, wollen wir den Blick der Mitmenschen (magisch) positiv beeinflussen. So tragen Ärzte weiße Kittel, denen ein Stethoskop aus der linken Tasche hängt, damit der Kranke sehe, hier kommt ein fähiger Medizinmann. Und umgekehrt treffen wir deshalb keine nackten Diktatoren in der Sauna. Sie müssen sich der Magie des Angeblickt-Werdens entziehen, wollen sie nicht im Adamskostüm den Nimbus ihrer Macht einbüßen.
Was ist nun geschehen, wenn ich im Schamaffekt im Boden versinken will? Sartre sagt hierzu, wir benähmen uns dann wie jemand, der in flagranti dabei ertappt wurde, wie er einen anderen heimlich hinter der Tür belauscht oder durch das Schlüsselloch beobachtet. Mit einem Schlage wird aus dem Herrn ein Knecht; das überlegene Subjekt-Bewusstsein des heimlichen Lauschers verwandelt sich wie durch Zauberkräfte; er wird schlagartig zum Objekt.
Worin liegt nun diese Zauberkraft? Sie besteht offensichtlich darin, dass der Lauscher im Beschämungserleben selbst sich gerade mit dem Blick des anderen identifiziert hat. Das kann auf bloßem Missverstehen beruhen. Er kann sich ein-bilden ertappt worden zu sein. Allein das Bild, das er sich einge-bildet hat, macht diese Verwandlung des Blickes des (hier: vermeintlich) Anderen in mein (unerwünschtes) Selbstbild aus. Man kann zu Tode beschämt sein, wenn man sich ertappt glaubt. In dieser Scham erleben wir uns ausgeschlossen aus der menschlichen Gemeinschaft. Für frühe Gesellschaften, in denen der gemeinsame Mythos das kulturelle Bindeglied untereinander ausmachte, bedeutete jede Ächtung (Ostrazismus) ein psychogenes Todesurteil.
Deshalb sind auch Kinder etwa um das 3. Lebensjahr so tief beschämbar. In dieser Phase sind sie noch dabei, sich in der mythologischen Ordnung zu orientieren (bei Adler Charakter genannt). Sich-Schämen heißt, ich lasse mich von dem, was ich als den Blick des anderen verspüre, definieren. Ob dieser fremde Blick in uns auch das sah, was wir als seine Botschaft empfinden, ist dabei belanglos. In diesem Sachverhalt liegt der unsägliche Einfluss, dem wir in den ersten Kinderjahren ausgesetzt sind. Allein das Atmosphärische der Lebenswelt fließt affektiv in unsere Person ein.
Diese Ausführungen mögen auf manchen Leser etwas umwegig wirken, wo es doch nur darum ging zu erklären, worin die unterstellten magischen Mächte liegen, die bei einer ‚Zoomkonferenz' am Werke wären.
Vielleicht wurde aber auf diesem indirekten Wege die Sache deutlicher. Wenn ich mich z.B. sprechend ins Geschehen einbringe, dann mache ich mich potenziell für die Zusehenden ‚nackt'. Ich weiß darum, dass man mich anschaut. Das ist für die Mehrzahl derer, die hier den Mund auftaten, ein Kraftakt. Denn wir sind hierdurch verstärkt beschäftigt mit dem Problem, werde ich bei der intendierten Sache bleiben können oder ringe ich selbstbezogen mit der Inszenierung meiner Rolle.
Jedoch verlangt die inhaltliche Botschaft und deren adäquate Darbietung die Konzentration meiner Aufmerksamkeit auf die Sache. Andererseits wird ein Teil davon magisch angezogen von dem Wunsch, nur keine schlechte Figur zu machen. Wie dieser Kampf der Bewusstseine ausgeht, können wir in solchen Online-Konferenzen gewissermaßen wie durch ein Schüsselloch beobachten. Das Medium verstärkt in unserem Zusammensein eine irritierende Dynamik, die mit dem Phänomen des Blickes gefasst wurde.
Wenn wir dagegen im Therapieraum als Gruppe persönlich zusammensitzen, ist situativ ein höheres Maß an zwischenmenschlicher Gemeinsamkeit gegeben. Wir sitzen alle ungeschützt, sollen deshalb auch auf alle Schutzmittel verzichten, die Distanz produzieren: kein Handy, keine Notizen, auch kein Parfüm, dass seine Geruchsmacht ausüben könnte. Wir lenken auch nicht die Blicke durch unsere freizügige Kleidung, weil wir hier der magischen Macht des Leibes keinen Raum geben wollen. Bestenfalls durch schöne Gedanken soll der Dialog seine Kräfte zeitigen.
Wenn wir jedoch an den Bildschirm gebunden sind, dann sollten wir auf alle uns zu Verfügung stehenden ‚Machtmittel' verzichten. Wir stellen beispielsweise für den gerade Sprechenden nicht das Vollbild ein. Und noch weniger sollten wir uns vor dem Angeblickt-Werden schützen, indem wir unsere Kamera am eigenen Rechner ausschalten. Wer sich durch seinen Beitrag dem Blick der anderen aussetzt, hat unsere ganze Zuwendung und Sympathie verdient.
In G.W.F. Hegels berühmter Phänomenologie des Geistes heißt es: Nur im Modus der Liebe schweigt der Kampf der Bewusstseine. Sartre glaubte nicht an die Realisierbarkeit von Liebe und teilte hier Hegels Ansicht nicht. Vielleicht sollten wir das aber versuchen. Liebe verlangt vom Menschen, dass er den Mitmenschen – gerade wegen seiner Andersartigkeit – in seinem Wert zu bejaht. Liebe oder Sympathie ist somit die geistige Hinwendung zum anderen im Modus der Mitmenschlichkeit. Sie ist keine Befindlichkeit, kein Zustand von Verliebtheit, sondern muss in Akten des Liebens immer auf Neue vollzogen werden. Aber damit sind wir schon wieder bei einem neuen Thema.

 

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