Selbstwertstreben

Willst du Dich des Lebens freuen, musst der Welt Du Wert verleihn. (Goethe)

Der Begriff Selbstwertstreben geht auf den Psychologen und Philosophen Wilhelm Keller zurück, der 1963 ein Buch zu diesem Thema geschrieben hat. 

Mit Selbstwertstreben bezeichnet er die fundamentale Motivation des Menschen, sein Selbstwertgefühl möglichst hoch zu halten und sich selbst zu entwickeln. Anders ausgedrückt: Wir wollen, was immer wir tun oder meiden, uns selbst als wertvoll betrachten können. Das entspricht dem Gedanken Alfred Adlers, der davon gesprochen hat, dass der Mensch in allen seinen Verhaltensweisen das Gefühl des Eigenwertes anstrebe.

Aber wie kann das gelingen? Welche Art der Selbststeigerung ist zur Erhöhung unserer Selbstachtung und unseres Selbstwertgefühls geeignet?

Im Begriff (Selbstwertstreben) ist indirekt der Gedanke enthalten, dass Selbstwertstreben und Wertverwirklichungeine untrennbare Einheit bilden. Denn ein eitles, um sich selbst kreisendes Streben würde steril bleiben und könnte unseren Selbstwert nicht nachhaltig stützen. Daher steuern tätige und beziehungsfähige Menschen nicht primär Eigenwert an, sondern sie wollen Wertvolles schaffen und auf diesem Wege auch für sich Zufriedenheit und Glück erlangen. Wir können die Verwirklichung von Werten nie direkt anstreben, sondern wir stehen vor Aufgaben, die wir lösen wollen, und in diesen steckt, wenn man so will, der Wert. Das entspricht im Grunde auch wieder den Gedanken Alfred Adlers, der von den Lebensaufgaben Arbeit, Liebe, Gemeinschaft und Kulturschaffen sprach, die wir im Verlauf unseres Lebens in Angriff nehmen und bewältigen sollten.

Beim Selbstwertstreben geht es damit auch um die Übernahme von Verantwortung für die eigene Lebensgestaltung und um die Suche und das Ansteuern von sinnvollen Zielen. Man könnte es gleichsetzen mit dem Streben nach hochwertigen Eigenschaften, einem höheren Person-Niveau und nach Fülle des Daseins, was Keller allerdings inhaltlich nicht näher präzisiert. Auch verweist es auf das Phänomen der menschlichen Willensfreiheit und des Wollens überhaupt, womit sich Keller bereits in seinem Buch Psychologie und Philosophie des Wollens beschäftigt hatte. Durch unsere Fähigkeit zum Selbstbezug und zur Selbstreflexion haben wir die Möglichkeit, uns zu unserem Leben, zu uns selbst und zu unseren Mitmenschen einzustellen. Dies impliziert die Annahme eines gewissen Freiheitsspielraums, den es bei der Realisierung von Selbstwertstreben auszubauen gilt.

Keller streift mit dem Begriff auch die Frage nach der Beschaffenheit des nur dem Menschen möglichen Selbstseins, die er unter Einbeziehung von Erkenntnissen der Existenzphilosophie Søren Kierkegaards und mit Hinweisen auf die Lebensphilosophie Friedrich Nietzsches abhandelt. Auch der von dem Phänomenologen Alexander Pfänder verwendete Begriff Selbstauszeugung der Person hat enge Verwandtschaft mit dem Phänomen Selbstwertstreben. Er grenzt sich ab von der partiell naturalistisch-mechanistischen Denkweise und dem Determinismus der Psychoanalyse und entwickelt seine Phänomenologie des Selbstwertstrebens auf dem Boden einer philosophischen Anthropologie unter Einbeziehung der Theorien Husserls, Heideggers, Aristoteles´ und Schultz-Henckes. 

Um das Phänomen Selbstwertstreben entwicklungspsychologisch zu fundieren, knüpft Keller an die Antriebslehre von Harald Schultz-Hencke an, der von verschiedenen Grundantrieben ausging, die von frühester Kindheit an die Entwicklung eines Menschen anstoßen und herausfordern. Ob wir uns relativ gesund entwickeln und reifen können, hängt davon ab, ob wir die notwendigen phasenspezifischen Entwicklungsschritte möglichst ohne massiveres Hemmungsgeschehen absolvieren können.

Keller fügt den elementaren Schultz-Hencke´schen Kategorien des Besitz-, Behauptungs- und Kontaktstrebens den Betätigungs- und Schaffensdrang hinzu und führt als weitere Grundstrebung das Selbstwertstreben ein, das sich gewissenmaßen quer zu den anderen Strebungen realisiert, diese übergreift und sie imprägniert. Es kommt erst in einem späteren Abschnitt der Kindheit zum Tragen. Solange massivere Hemmungen in verschiedenen Antriebssphären bestehen, kreisen wir hauptsächlich um die Bewältigung unseres gehemmten Antriebserlebens und um dessen Kompensation. Dies zieht immer auch eine Hemmung des Selbstwertstrebens nach sich. Erst ein einigermaßen gut gelöster, kultivierter Umgang mit unserer Antriebswelt ist Voraussetzung dafür, dass wir uns mit der Frage nach Sinn, Wert und Gestaltung des eigenen Lebens befassen und damit auch Selbstwertstreben realisieren können. 

Keller beschreibt in seinem Buch verschiedene Formen gehemmten Selbstwertstrebens, wie etwa unermüdliche Tätigkeit („Managerkrankheit“, Arbeitssucht), ein Übermaß an selbstlosem Verhalten (Helfersyndrom), ständige Gereiztheit oder mystische und asketische Haltungen, die für unsere Menschenkenntnis und für die psychotherapeutische Praxis wertvoll sind.

Wichtige Fragen stellt Keller auch in Hinblick auf die Thematik des Selbstwertgefühls. So versteht er dieses nicht in erster Linie als Ergebnis von erlebten und verinnerlichten guten Beziehungen, quasi als geronnene Form, sondern er betont den aktiven Anteil, uns Selbstwertgefühl erobern zu können, indem wir uns auf zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten ausrichten und diese in unser Leben einzuarbeiten versuchen. Seine Gedanken lassen damit die Thematik der Eigenverantwortlichkeit anklingen, mit der ...

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