Situation

Zum Begriff der Situation

Man mag sich zunächst fragen, wozu die Auseinandersetzung mit einem solch alltäglichen Begriff? Im psychotherapeutischen Dialog stoßen wir ständig auf die Folgen, welche sich aus den unterschiedlichsten Reaktionsweisen der Menschen auf Situationen ergeben, in die sie hineingeraten. Die einen zappeln wie in einem Netz, andere dagegen scheinen gar nicht mehr zu hören, was die Situation ihnen sagen will. Und wiederum andere scheinen sich Hals über Kopf in Abgründe zu stürzen.

Was mit der Frage nach dem Wesen der Situation an Aufschluss über unser Menschenleben zu gewinnen ist, deutet sich schnell an, wenn wir uns eine konkrete Situation vor Augen führen. So beklagen wir zuweilen, wie wir nur „in diese Lage“ kommen konnten und nun nicht mehr in der vorigen „glücklichen Lage sind“. Im positiven Fall waren wir „im Stande“ zu etwas, also offenbar „Herr der Lage“. Da fühlten wir uns nicht als Objekt eines äußeren Zwanges, die offenbar von einer Situation ausging, der wir am liebsten entflohen wären. 

Wir kommen demnach der Frage nach dem Wesen der Situation einen Schritt näher, wenn wir sie als ein Geschehen in den Blick nehmen, dem wir nicht entkommen können. Und manchmal ist es auch eine, von der wir gerne hätten, sie bliebe uns noch länger erhalten. Doch oft wünschen wir nichts sehnlicher, als dass sie endlich vorbeiginge.

Hierzu geht mir der Titel eines Romans durch den Sinn: Die große Meeresstille des französischen Schriftstellers Jean Giono. Wir Leser haben teil am Schicksal der Mannschaft auf einem Segelschiff wie zur Zeit der Entdeckungsreisen. Es ist zunächst nicht so recht deutlich, wohin die Reise gehen soll. Wir ahnen aber bald, dass die Expedition sich zum Ziel gesetzt hat, der Route des Columbus zu folgen. Bereits zu Beginn der Fahrt gerät man in tückische Wind- und Wetterverhältnisse, was aber für ordentliche Seemänner keine unvertraute Situation bedeutet. Dann jedoch liegt der Dreimaster bewegungslos in einer Flaute. Statt irgendwann wieder Fahrt aufzunehmen, wird die Karavelle von einer Strömung erfasst, die nun über den Lauf der Dinge bestimmt. Eine Situation also, die jedes Segelschiff unsteuerbar macht. Auch der Leser wird mit hineingezogen in ein alles durchsetzendes Empfinden einer nicht enden wollenden Dauer. Giono lässt seinen Erzähler klagen: 

"Was zum Henker soll man hier anfangen? Es regnet. Weißt du, wo die See uns hintreibt? Nach keiner Richtung Sicht … Überall Regenvorhänge. Eine trübe, bewegliche Wand, durch die jeden Augenblick die unvorhergesehensten Dinge auftauchen können. Aber oft bleibt die Wand auch lange um uns herum stehen und bewegt sich nicht … Die Stelle wo wir gestern im Meer festgesessen haben, … wird genau wie die aussehen, wo wir jetzt festsitzen… wir würden den Regen in Kauf nehmen, und auch, dass wir in seine düsteren Mauern eingepfercht sind: aber wir möchten steuern … wir wollen nichts als steuern; denn das Steuern gibt uns die Gewissheit, dass wir … lebendig sind …, wenn nur wir selber inmitten von alledem steuern…, die Tatsache, dass man handelt, dass man in die Dinge eindringt, und dass man sich das Gefühl der Freiheit bewahrt."

Wir wollen von diesem Beispiel ausgehend danach fragen, was über alle Unterschiede hinweg das Einmalige ausmacht, wenn von Situation die Rede ist? Bei den folgenden Ausführungen werden wir uns im Wesentlichen an Nicolai Hartmanns philosophischen Gedanken orientieren, die wir seinem Essay Vom Wesen sittlicher Forderungen entnehmen.

Der Situationsbegriff bildet hier den Ausgangspunkt, von dem aus er das Thema als ethisches Problem entfaltet. Gemeint ist damit die Frage, woher es kommt, dass wir Menschen plötzlich das Gefühl haben, vor einer Entscheidung zu stehen und daran nicht vorbei zu kommen.

Zuvor noch einige Bemerkungen zu Hartmann: Er ist ein ontologischer Denker. Für die Betrachtung des Menschen heißt das, dass seine Seinsweise sich dadurch auszeichnet, dass er an allen uns bekannten Seins-Schichten teil hat. Er ist ein strukturiertes Gefüge, in dem unbelebte Materie, organischeseelische und geistige Schicht zur heterogenen Einheit zusammentreten. Für uns ist hierbei bedeutsam, wie er Abhängigkeit und Autonomie der Schichtmodalitäten diskutiert. Die „höheren Schichten“ werden getragen und teilweise determiniert durch die „tieferen“ als den zugleich „stärkeren“. Dennoch gibt es für die jeweils höhere Schicht einen Freiheitsspielraum, so dass man von Autonomie trotz Dependenz sprechen kann. Leben überformt das Materielle, das Seelische überbaut das Vitale; der Geist schließlich zeigt Merkmale der Freiheit.

Was hier in unseren Ohren noch fremd klingen mag, bringt aber eine ungemein aufschlussreiche Perspektive in alle Betrachtungen über uns Menschen. In so vielem, was uns als selbst-verständlicherscheint, kommen dann übersehene Probleme zum Vorschein. Von Hartmann lässt sich einiges über das Wesen des Menschen lernen. Er macht deutlich, dass wir kaum etwas von Belang darüber sagen können, wenn wir nicht die einzigartige Seinsweise des Menschen berücksichtigen: Er ist das Wesen, das in einer durch ihn selbst geschaffenen Kultur lebt. Als ein natürliches leibseelisches Sein hat er zugleich ein seelisch-geistiges Bewusstsein von der Welt und sogar von sich selbst. Man sagt diesen Sachverhalt so leicht vor sich hin, oft ohne dabei zu bemerken, was sich damit an Problemgehalten auftut. So ist der Mensch „nicht nur Natur-, sondern auch Vernunftwesen“: Er kann handelnd in den Lauf der Dinge eingreifen, er kann wollen, wünschen, sich sehnen und für sich sorgen. 

Aus obiger Feststellung, wenn sie denn zutreffend ist, ergibt sich ein ethisches Problem. Und das wird hierdurch zum unabweisbaren Zentralproblem im menschlichen Leben. In Hartmanns Worten: 

"Erst der Mensch vermag in seinem Handeln zielbewusst zu sein, er kann arbeiten, und erst durch diese ihm charakteristische Fähigkeit ermöglicht er die Kultur. Dadurch, dass der Mensch Zwecke setzen und sie realisieren kann, wird er ein aktives Wesen in einem ganz anderen Sinne als das Tier. Das Tier nimmt seinen Weg in einer wunderbaren Sicherheit von Augenblick zu Augenblick. Es kennt nicht den eigentümlichen Charakter der Situation, in die der Mensch gerät. Es irrt sich nicht, es tut, was für die Erhaltung seiner Tierperson, seiner Lebensart, notwendig ist, so wie es ihm die ihm anhaftenden Artgesetze vorschreiben."

Das Tier reagiert instinktiv auf die vorgefundene Situation; es bringt demnach seine ihm vorgezeichnete Reaktionsweise in die Situation mit. Dem Menschen fehlt diese Instinktausstattung; seine Organe werden durch die Sinne nicht mehr unmittelbar darüber belehrt, welche Reaktion hier erforderlich ist. Das Tier hat keine Wahl; im artgemäßen Biotop zeigt sich seine vollendete Angepasstheit in noch so plötzlich auftretenden Veränderungen. Ihm verraten seine Sinne unmittelbar, was die Situation verlangt. Dagegen bricht über uns Menschen die Situation oft unversehens herein.

"Wir können uns die Situation nicht wählen, wir geraten in sie, werden zumeist überfallen von ihr. Das gilt auch dann, wenn wir sie durch eigenes Tun mitgestaltet haben, denn niemand durchschaut ganz die Folgen seines Tuns; die wirkliche Situation fällt immer anders aus, als wir sie vorgesehen. Das ist schon darum so, weil nicht allein berechenbare Sachzusammenhänge sie ausmachen, sondern stets auch die verborgenen Gesinnungen und Absichten der Menschen, zwischen denen sie spielt."

Was Hartmann hierzu festgehalten hat, verweist auf eine unerbittliche Bedingung des Menschenlebens: Der Mensch weiß um das gnadenlose Fortschreiten der Zeit. Und er verfügt über die Fähigkeit, in seinem Bewusstsein der Zeit voraus zu sein. Wir können uns in längst vergangene Tage zurückversetzen oder per Phantasie einer Situation zu entfliehen versuchen. Aber unsere Leiblichkeit bedingt, dass der biologische geltende Zeitablauf erbarmungslos das letzte Wort hat. Damit sind die Zeit und der Leib in ihrer wechselseitigen Bezogenheit die unnachgiebigen Gegner, die unserer Phantasie die Grenzen setzen. Jeder von uns hat oft genug erlitten, was Hartmann als diesen Zwang der Situation beschreibt:

"Sind wir einmal hineingeraten, so können wir nicht mehr ausweichen. Alles Geschehen schreitet in der Zeit vorwärts; es gibt das Zurücktreten in ein früheres Stadium wohl in Gedanken – da sehen wir dann, wie wir die heraufziehende Situation hätten vermeiden können –, nicht aber in Wirklichkeit. Wir müssen also hindurch, müssen sie auf uns nehmen und mit ihr zurechtzukommen suchen."

Es deutet sich an, dass nur derjenige einer Situation gewachsen ist, der ein gewisses Maß an Lebenskompetenz, Duldungsfähigkeit oder auch an Mut zur Durchsetzung mitbringt. Das verweist auf Problemhorizonte, die uns im Leben und speziell in der Psychotherapie allenthalben begegnen. Da wir ein Wissen um die Zwangslage besitzen, wie sie jede Situation schon von ihrem Wesen her für uns konstelliert, reagieren wir nicht selten bereits im Vorfeld phobisch. Bei alledem ist das, was von uns an einer Situation als bedrohlich erlebt wird, individuell überaus verschieden. Für den einen ist der Prüfungstag krönender Abschluss, für den anderen eine drohende Entblößung. Denn in der Situation steht immer unser menschliches Format auf dem Prüfstand. 

Bei Alfred Adler heißt es sinngemäß, dass jede Situation die Struktur einer Aufgabe besitzt. An der Art und Weise ihrer Bewältigung werde unser Gemeinschaftsgefühl sichtbar. Es zeigt sich dann ‚unter den Augen der Welt‘, wer wir als sittliche Wesen sind. Selbst wenn es bloß um eine Mathematikarbeit geht, so ist hier die ganze Person mit in der Bewertung. Dieser auch sittlichen Probe kann sich keiner entziehen, ist er einmal in die Situation hineingeraten. In den Worten Hartmanns:

"Das bedeutet weiter: Wir müssen in ihr handeln, müssen uns entschließen, Entscheidung fällen. Es hilft uns nichts, wenn wir die Hände untätig in den Schoß legen. Auch die Unterlassung ist Entscheidung. Ja, sie ist im ethischen Sinne auch ein Handeln. Und wenn sie schuldhaft ist, fällt die Schuld ebenso sehr auf uns zurück wie die aus aktivem Verhalten."

Hier klingt unüberhörbar an, was uns Menschen so anfällig dafür macht, diesem Zwang entgehen zu wollen. Wir wissen nicht eigentlich, was genau das Bedrohliche der Situation ausmacht. Solange ich noch nicht in ihren Bannkreis geraten bin, beherrscht meine Vorstellung die Bühne. Es fällt niemandem auf, wenn ich mein Phantasiebild von mir wie mein reales Selbst behandle. Sobald sich aber der Vorhang öffnet, wird die Situation offensichtlich; nun bestimmen die aufscheinenden konkreten Bedingungen, wer ich selbst faktisch sein werde. Es kann sich die Lückenhaftigkeit meiner Vorbereitung erweisen, oder auch mein Mut zu handeln, obwohl mir die Kriterien für richtig und falsch noch fehlen. Darin liegt nach Hartmann das ethische Wesen einer Situation. Sie

"allein sagt uns nicht, wie wir handeln sollen, sie schreibt uns den Weg nicht vor. Sie schränkt nur die Möglichkeiten ein. Die Entscheidung überlässt sie uns selbst. Das gilt im Großen wie im Kleinen. Wir bemerken es freilich selten in seiner ganzen Tragweite, vielleicht nur an gewissen bedeutsamen Wendepunkten unseres Lebens, wenn wir auf weitere Sicht entscheiden müssen. Aber grundsätzlich ist es in all den kleinen Augenblicks-Situationen dasselbe. Nur das Gewicht der Entscheidung variiert."

Was Nicolai Hartmann hier abschließend formuliert, beschreibt ein eigentümliches Paradox: Die dem Menschen aufgegebene Freiheit hat Aufgabencharakter. Deshalb erleben wir oft unsere Freiheit als unerwünschten Zwang, dem wir uns mit allen verfügbaren Mitteln zu entziehen suchen. Sigmund Freud sah die „Neurose“ in der Unvereinbarkeit von Triebhaftigkeit im Kulturzwang gegründet. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich ein andersartiger Aspekt: Das als „neurotisch“ bezeichnete Verhalten müsste als Versuch eines Menschen verstanden werden, dem Zwang zur Freiheit entrinnen zu wollen. Insofern ist Neurose, verwendet man Adlers Worte, immer auch ein „ethisches Versagen“ angesichts einer Lebensaufgabe. Das klingt in unseren Ohren moralistisch. Doch im Nachsatz heißt es abmildernd: einer Aufgabe, auf die wir nicht gut vorbereitet sind. Trotzdem ist das harte sittliche Urteil die sachliche Konsequenz; denn Menschenleben bedeutet in Situationen involviert zu werden. Dazu noch einmal Hartmann:

"Die beiden letzteren Punkte zeigen deutlich das Schicksalhafte im Wesen der Situation. Es besteht darin, dass stets in ihr ein Moment der Unfreiheit und ein Moment der Freiheit miteinander verbunden sind: Darin sind wir nicht frei, „ob“ wir entscheiden und handeln wollen oder nicht; wir müssen entscheiden, und wir entscheiden immer in der einen oder anderen Weise. In unsere Freiheit gestellt bleibt nur, „wie“ wir entscheiden. Wir sind gezwungen zur freien Entscheidung, oder in abgekürzter Formel: die Situation ist für uns Zwang zur Freiheit."

Kommen wir nun zurück zur Eingangsszene der Exkursion in eine noch unbekannte Welt. Wir erinnern uns: Gionos Seefahrer befinden sich in einer Flaute, die ihr Schiff unsteuerbar macht, und gleichzeitig fühlen sie sich von einer Strömung ins Ungewisse getrieben. Dieses Motiv bildete ... 

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