Fiktion

Fiktion als ordnendes Koordinatensystem

Das Wort Fiktion (aus dem Lateinischen) bedeutet Erfindung, Erdachtes, Annahme und Unterstellung. In der Philosophie verwendet man es als Terminus für eine bewusst gesetzte, manchmal widerspruchsvolle oder falsche Annahme als Hilfsmittel bei der Lösung eines Problems. Im Jahre 1911 wurde dieser Begriff weltberühmt, als der deutsche Neu-Kantianer Hans Vaihinger sein Buch Philosophie des Als ob mit dem Untertitel System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit aufgrund eines idealistischen Positivismus publizierte. Vaihinger war ein Kant-Forscher, der eine Synthese von Darwinismus, Idealismus und Positivismus anstrebte.

Für Alfred Adler wurden die Vorstellungen Vaihingers ausgesprochen bedeutsam. Sie kamen für ihn just zu einer Zeit, in der er sich von Freud und dem psychoanalytischen Zirkel zurückzog, um seine eigene Individualpsychologie (Über den nervösen Charakter, 1912) zu fundieren. In Vaihingers Philosophie des Als Ob empfand er die „aus der Neurose vertrauten Gedankengänge als für das wissenschaftliche Denken allgemein gültig“ dargestellt. Wir können demnach mit Bestimmtheit davon ausgehen, dass Adler seine künftige Neurosenlehre teilweise auf Vaihingers Theorie begründete. 

Der Philosoph hatte beobachtet, dass die menschliche Erkenntnis sehr oft mit hypothetischen Annahmen arbeitet, die sich für die Orientierung in der Realität als nützlich erweisen. So unterteilt man den Globus in ein Netz von Längen und Breitengraden, die in Wirklichkeit nicht existieren; aber man kann mit ihrer Hilfe jeden Punkt auf dem Erdball genau angeben. So benutzt die Statistik den Begriff eines „mittleren Menschen“, den es nie gegeben hat und auch nie geben wird. Aber auch mit dieser willkürlichen Erdichtung kann man praktische Maßnahmen ergreifen, die Ziel und Richtung haben.

Adler meint nun, dass jeder Mensch im Laufe seiner Entwicklung zu Fiktionen greift, um mit diesen Leitlinien das Chaos seiner Erlebnisse und Erfahrungen zu ordnen. Je schwieriger und damit beängstigender sich das Lebensgeschehen gestaltet, um so starrer und lebensfremder werden diese Hilfskonstruktionen sein. Der seelisch flexible Mensch kann eine Annahme als bloß subjektiv korrigieren oder auch ganz fallen lassen, wenn die objektive Realität dagegen Einspruch erhebt. Kaum je gelingt das in Neurose oder gar Psychose: Hier hat das fiktive Ordnungsschema so viel Gewalt über den verunsicherten und verängstigten Menschen, dass er alles Erlebte auf das Prokrustes-Bett seiner Fiktionen spannen muss. Er steht geradezu unter einer hypnotischen Wirkung seines überhöhten Persönlichkeitsideals. Wo man normalerweise erwartet, jemand werde aus schmerzlicher Erfahrung lernen, unterliegt er einem Wiederholungszwang. Vor dem uneinlösbaren Diktat seiner Ansprüche muss sich das schwache Ich mit derzum Zwangskorsett geronnenen Charakterstruktur schützen.

Wie behandelt die Psychotherapie nun solche verfestigten fiktiven Lebensanschauungen? Lassen sie sich durch realitätsgerechtere Auffassungen ersetzen? Fiktionen sind Bewusstseinstatsachen, die gewissermaßen einer Korrektur des Intellekts bedürften. Das gelingt kaum je direkt. Deshalb beschäftigte sich die Psychoanalyse vorzugsweise mit den unbewussten triebhaften Wurzeln unseres Denkvermögens, um solche realitätsfernen Ideengebilde ins Bewusstsein zu heben. Adler hatte andere Vorstellungen vom Unbewussten. Für ihn lagen sie in der unverstandenen menschlichen Affektivität und dem mangelnden Zugang zu unseren Emotionen. Man hat Adler Intellektualismus und Rationalismus vorgeworfen, aber er war sich wohlbewusst, dass alles Gedankliche tief im emotionalen Kern der Persönlichkeit verwurzelt ist.

So finden wir z.B. bei Depressiven die fiktive Annahme, dass ihr Leben ohne jegliche Entwicklungsmöglichkeit sei; Geizige bekunden voller Überzeugung, dass sie kurz vor der restlosen Verarmung stehen usw. Man erkennt hier, dass offenbar im fiktionalen Denken die affektive Gewissheit durch die Suggestivkraft grober Gegensätze bewirkt wird. Es fehlt das ‚Gehör‘ für die Grautöne zwischen Weiß und Schwarz. Vom ‚Affektgetöse‘ übertönt, wird die Aufmerksamkeit auf das eigene bedrohte Ich fokussiert. Die Welt, der die Lebenskraft eigentlich zur Steigerung des eigenen Selbstwertgefühls gelten sollte, verschwindet dadurch im Nebelhaften.

Für die Wissenschaften stellte Vaihinger fest, dass ihre Hypothesen oft zu Dogmen entarten. Sie haben eine besondere Haltbarkeit, wo die Wege der Überprüfung schwierig sind. Man vergisst, dass man Annahmen konstruiert hat und auswechseln darf; ähnlich geht es im individuellen Leben, wo wir einige falsch interpretierte Erlebnisse zu dogmatischen Abstraktionen erheben und aus ihnen schiefe Lebensregeln ableiten. Die Vorurteils-Struktur in der Patientenpersönlichkeit aufzuweichen, gelingt bestenfalls auf Umwegen. Erst wenn sich der Patient in der therapeutischen Beziehung getragen fühlt, ist er irgendwann bereit, im Schutze der Gesprächssituation seine Krücken als lästig zu betrachten. Doch verbale Überzeugungsarbeit kann nie die Angst vor dem Erproben abnehmen. Einen Weg zu erhinken, statt ihn wie von unserem idealisierten Ebenbild leichten Schrittes zu erwandern, ist leichter vorgeschlagen als in der Realsituation ertragen. Die Gemeinschaft einer Therapiegruppe ist auch hier therapeutisch wirksamer, weil wir im Umweg über anderen den ‚Splitter im Auge‘ schneller sehen lernen als den ‚Balken‘ vor dem ... 

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