Gewissen

Gewissen – unser innerer Mitwisser

Was ein Gewissen ist, dazu reichen die Erklärungen von der Stimme Gottes in uns bis zu verinnerlichten Moralvorstellungen; sie werden dann stillschweigend entweder als angeboren gedacht oder als durch Erziehung und gesellschaftliche Konventionen uns eingeimpft. Doch das Entweder/Oder suggeriert, beide Sichten schlössen sich wechselseitig aus, ohne zuvor jedoch geklärt zu haben, was es mit dem Gemeinten auf sich haben mag.
Bei einem so umstrittenen Gegenstand ist eine Vorab-Definition nicht sinnvoll. Wir beschränken uns auf einen Überblick, was der landläufige Sprachgebrauch über das Gewissen redet bzw. wie Philosophie und Psychologie sich zur Gewissensthematik äußern. Hierbei darf nicht vergessen werden, dass bei einem Sachverhalt, der den Einzelnen unmittelbar betrifft, dieser Einzelne letztlich sein eigenes Erleben befragen muss.

Erste Auskunft über das, was im Laufe der Entwicklung einer Kultur für gewiss(!) gilt, verrät uns der Umgangs-Sprachgebrauch selbst. Das Wort Gewissen geht vermutlich auf das althochdeutsche awizzani zurück, welches Wissen, Kenntnis, Kunde und Mitwissen bedeutet. Es entspricht dem lateinischen Ausdruck conscientia (französisch conscience). Offenbar weiß die Sprache um einen eigentümlichen Sachverhalt: Unser Gewissen begleitet unser alltägliches Denken und Handeln und stellt dabei gleichzeitig eine emotionale Beziehung her.

Vermutlich schon früh wurde in der menschlichen Kultur der Ruf des Gewissens vernommen. In der griechischen Philosophie hat er bereits die Form expliziter Gewissenstheorien angenommen. Zu Sokrates spricht sein Daimonion, jene intuitive innere Stimme, die merkwürdigerweise immer nur verneint und selten bejaht. Hier taucht auch schon das Symbol des Gerichtshofes als Bild für das Gewissenserlebnis auf. Offenbar wählt der Mensch zum Verständnis der schwer fassbaren Vorgänge seiner Innenwelt Bilder aus der Außenwelt, die dann aber nur teilweise den Sachverhalt treffen.

Die Aufteilung des menschlichen Gemüts in einen Kläger und Verteidiger in einer Person beinhaltet etwas Widersprüchliches. In der Kritik der reinen Vernunft (1788) machte Immanuel Kant einen entscheidenden Schritt zur Lösung des Widerspruchs: Der Mensch selbst ist es, der sich hiermit zum Gesetzgeber macht und gemacht hat. Mit seinem kategorischen Imperativ formulierte Kant das Prinzip, an dem sich die menschliche Moral als unser innerer Gesetzgeber ausrichten sollte. Es lautet: Jeder solle so handeln, dass man wollen kann, dass der Grundsatz des eigenen Verhaltens zum Prinzip einer allgemeingültigen Gesetzgebung werden könne. Und weiter: Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst. Auch wenn man Kant nicht unberechtigt vorgehalten hat, dieses Prinzip sei inhaltsleer, so trifft das wohl nicht ganz zu; denn die letztere Formulierung beinhaltet, dass der Mensch als Person ein Sonderwesen unter den anderen Lebewesen ist.

Schopenhauer kritisierte als erster diese eher formale Bestimmung des Gewissens. In Über die Grundlage der Moral (1840) lautet bei ihm die Botschaft nun folgendermaßen: Schade niemandem, sondern hilf jedem, soviel du nur kannst! Unser Einsfühlen mit dem anderen rufe uns stets zu: „Das bist du!" Wie später bei Alfred Adler basiert ein echtes Gewissen auf einem umfassenden Gefühl der Solidarität mit allem Lebendigen. Schopenhauer war sich bereits bewusst, dass das übliche (autoritäre) Gewissen nur eine Zerrform der wahren Gewissenserfahrung darstellt; es sei etwa ein Fünftel Menschenfurcht, ein Fünftel Dämonenglaube, ein Fünftel Vorurteil, ein Fünftel Eitelkeit und ein Fünftel Gewohnheit. (§13).

Bei seinem Schüler Friedrich Nietzsche heißt es dann in Der Wanderer und sein Schatten (1879/1880):

Der Inhalt unseres Gewissens ist alles, was in den Jahren der Kindheit von uns ohne Grund regelmäßig gefordert wurde durch Personen, die wir verehrten oder fürchteten. Vom Gewissen aus wird also jenes Gefühl des Müssens erregt („dieses muss ich tun, dieses lassen"), welches nicht fragt: Warum muss ich?... Der Glaube an Autoritäten ist die Quelle des Gewissens: Es ist also nicht die Stimme Gottes in der Brust des Menschen, sondern die Stimme einiger Menschen im Menschen.

Nietzsche geht über die Kritik der einzelnen Gewissensinhalte hinaus. Ihm geht es um die Suche nach der Stimme eines eigentlichen Gewissens. Dieses rufe uns auf zum Selbstsein und Selbstwerden. Da die Mehrheit der Mitmenschen so zu leben gewohnt ist, wie ‚man' lebt, wagen nur ganz wenige die Lebensaufgabe der Selbstwerdung anzustreben. Das beängstigende und verunsichernde Anders-Sein als die Majorität lässt uns die Ohren verschließen vor dem Ruf dieses Gewissens. In Schopenhauer als Erzieher (Unzeitgemäße Betrachtungen, 1874) lesen wir:

Wir wissen es alle in einzelnen Augenblicken, wie die weitläufigsten Anstalten unseres Lebens nur gemacht werden, um vor unserer eigentlichen Aufgabe zu fliehen, wie wir gerne irgendwo unser Haupt verstecken möchten, als ob uns dort unser hundertäugiges Gewissen nicht erhaschen könnte, wie wir unser Herz an den Staat, den Geldgewinn, die Geselligkeit oder die Wissenschaft hastig wegschenken, bloß um es nicht mehr zu besitzen, wie wir selbst der schweren Tagesarbeit hitziger und besinnungsloser frönen, als nötig wäre um zu leben: weil es uns nötiger erscheint, nicht zur Besinnung zu kommen.

In dieser Tradition setzt Sigmund Freud den Weg Nietzsches fort. Die Neuformulierung der alten Teilung des Menschen in eine bewertende und eine bewertete Instanz ist einer der ersten Befunde der analytischen Ichpsychologie (Zur Einführung des Narzissmus, 1914). Das Ich sei offenkundig zweigeteilt: Es gebe eine Stufe im Ich, das Überich. Als Überich-Funktionen haben Selbstbeobachtung, Gewissen und Ichideal eine gewisse Selbständigkeit dem Ich gegenüber. Darauf verweist unsere Sprache: Sie redet von Selbsterfahrung, Selbstbegegnung, Selbstgespräch, Selbsterziehung, Selbsthass, usw.
Zu dieser Interpretation der Gewissensproblematik kam Freud vorrangig aus der Beobachtung depressiver und melancholischer Menschen. Ihr Überich benimmt sich wie eine eigenständige Instanz, die beobachtet, beschimpft, erniedrigt und verurteilt. Bei seinen Untersuchungen fiel ihm auf, wie unterschiedlich das Gewissen jedes Einzelnen Stellung bezieht. Warum spricht es nun auf dieses oder jenes an, bleibt aber bei anderen Tatsachen völlig stumm? Woher kommt die Individualität des Gewissens? Die Ähnlichkeit und Verschiedenheit der Wertmaßstäbe? Die Stumpfheit und Sensibilität bei verschiedenen Menschen? Die Gewissenlosigkeit beim einen und die Gewissenhaftigkeit beim anderen?
Freuds Antwort folgt Nietzsche: Die Stimme unseres Gewissens ist die Stimme unserer verinnerlichten Eltern und Erzieher. In die Sprache der Psychoanalyse gefasst, leben sie als verinnerlichte Liebesobjekte in uns fort. Oft haben jedoch Menschen mit sehr weichen, verwöhnenden Eltern ein hartes, destruktives Überich. Freud löste diesen Widerspruch durch die Annahme, dass es nicht die realen Eltern seien, die unser Überich prägen, sondern das Bild der Erzieher in uns, die sogenannten Elternimagines.
Da Freud alle geistigen Funktionen des Menschen aus dessen Biologie (Trieb) ableitete, sah er das Gewissen in einer Gegensatzstellung zum Lustprinzip. Dieser Sachverhalt verschärfte sich noch, als er 1920 in Jenseits des Lustprinzips den Aggressions- und Todestrieb in seine Theorie einführte ...

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