Anamnese

Der kreative Akt, eine Lebensgeschichte zu erfassen

Das griechische Wort ἀνάμνησις (anámnēsis) bedeutet Wiedererinnerung. In der Heilkunde handelt es sich um relevante Informationen, aus denen die spezifische „Vorgeschichte einer Krankheit" erfasst werden soll; in der Psychotherapie jedoch wird die ganze Lebensgeschichte thematisiert und in Erinnerung gerufen. Freud war davon überzeugt, dass das Wiedererinnern der individuellen Werdens-Geschichte von frühester Kindheit an der zentrale Wirkfaktor in der Psychotherapie sei. Deren Rekonstruktion ist ein wichtiges Diagnostikum; schon am Beginn einer psychotherapeutischen Behandlung muss eine sorgfältige Klärung der Vergangenheit des Patienten stattfinden. Dennoch ist der Verstehens-Vorgang eine größere Herausforderung: die hohe Kunst der Anamnese lernt man erst in langjähriger Berufserfahrung und sehr gründlichen Charakterstudien. Denn die Psychopathologie lässt sich zwar relativ leicht diagnostizieren, die Persönlichkeit des Patienten aber zeigt sich uns günstigenfalls im Dialog. Das Fundament dazu bildet das gute Vertrauensverhältnis, welches eine wichtige Voraussetzung aller Verstehens-Bemühung ist. Dazu bedarf es bei beiden Protagonisten eines Höchstmaßes an Bereitschaft, dieses Wagnis gemeinsam durchzustehen.

Wenn nun das Vorgehen im anamnestischen Gespräch grob skizziert wird, muss allerdings der Bezug zur Ganzheitsstruktur des Menschenlebens im Hintergrunde immer mitbedacht werden:
Ausgehend von der aktuellen Situation des Patienten ist die Fragemethode der Individualpsychologie von A. Adler sehr hilfreich. Will man sich einen Überblick über die psychische Konstellation des Analysanden verschaffen, dann ist es wichtig, eingehend die psychischen und physischen Beschwerden zu eruieren. Diese werden vom Patienten nicht ungern geäußert; die Symptome sind ja laut Freud sein „Liebesleben" bzw. sein „Ersatzleben". Adler formulierte es so: Indem der Pat. sich den Symptomen intensiv zuwende, sei die vor ihm wartende Lebensaufgabe fast vergessen. Aber für dieses selbsterrichtete Alibi zahle er schließlich den hohen Preis des Leidens.

Demnach sind die Symptome in der gesamten Lebensführung und Selbstbeziehung verankert. „Wo Rauch ist, ist auch Feuer", pflegte Adler zu sagen: hinter den Symptomen stehen Weltbild, Charakteranomalien, Persönlichkeitsstörungen, Dissonanzen im Aufbau der Person. Daher müssen wir immer den Weg vom Symptom zur Gesamtpersönlichkeit und zu ihrer existentiellen Situation beschreiten.

Als anthropologischer Denker fragte Adler nach der Bewältigung der drei zentralen Lebensaufgaben des Menschen, von deren Lösung alle psychische Gesundheit abhängt. Die Einstellung zu diesen fundamentalen Lebensbereichen zwischen Zurückweichen und offensivem Herangehen zeigt sich dem anamnestischen Blick wie eine Grundmelodie in der Lebensführung. Und sie offenbart sich zudem in der Abwesenheit des Patienten auf den Schauplätzen, an denen diese Aufgaben zu bewältigen sind.
Verankerung in Arbeit und Beruf: gibt es Interesse, Kompetenz und Verantwortung in diesem Bereich, gibt es Arbeitsschwierigkeiten? Wer in der Arbeit Erfolg hat, trägt auch einen seelischen Stabilitätsfaktor in sich. Denn wir werten unwillkürlich nach dem Maßstab: Wer etwas kann, ist wer! Das ist zwar nicht immer gültig, aber als Faustregel nicht zu verachten.
Eine weitere Lebensaufgabe ist die Liebe und Sexualität. Das zeigt sich in den emotionalen Tönungen des Therapiegesprächs. Spüren wir Beziehungsfähigkeit? Will der Patient uns erotisch affizieren? Seine „erotische Biografie" reicht von der frühen Kindheit bis heute.
Die dritte Aufgabe ist die der Gemeinschaft. Wie steht der Patient zu den Mitmenschen, zur Gesellschaft, zur Kultur, zur Menschheit insgesamt? Ist er ein Mit-mensch oder ein Gegenmensch, ein „Geselliger" oder ein „Einsiedler"? Nimmt er am Fortschritt teil oder beschäftigt er sich nur mit „Privatangelegenheiten"? Nach Adler ist Sozialinteresse im weitesten Sinn ein seelischer Gesundheitsfaktor. Es besteht eine Wechselwirkung zwischen Selbstachtung und sozialer, kultureller Eingliederung. Wer teilhat am Gesellschafts- und Kulturleben, kann sich selbst positiv einschätzen. Der in dieser Hinsicht schlecht sozialisierte Neurotiker wird leicht Opfer von Kleinheitsgefühlen und Selbstverachtung.
Die Grundthese der Tiefenpsychologie ist, dass die ersten Lebensjahre ungemein prägend sind. Wir schleppen sie bis ans Ende unserer Tage meist nur unbewusst mit; viele Probleme im Erwachsenenleben sind Restbestände einer unverarbeiteten und traumatisierenden Kindheit. Deshalb kommt nach dem Erheben des 'Gegenwartsstatus' die individuelle biographische Vergangenheit in Betracht. Die ganze Lebensgeschichte des Patienten ist für den Analytiker wichtig. Wie war die Kindheit, das Elternhaus, die Ehe der Eltern, die Beziehung zu Geschwistern, Verwandten und Freunden, welche Atmosphäre herrschte? usw.
Adler fragte immer nach frühen Kindheitserinnerungen. Es ist zutiefst spezifisch, was ein Mensch von Millionen von Eindrücken seiner frühen Jahre im Gedächtnis behält. Nach Freud sind das „Deckerinnerungen", die in seiner Deutungsweise auf sexuelle Traumata verweisen. Durch die Rekonstruktion dieser belastenden Kindheitsbiographien werden sie dem Vergessen entzogen und können per Erinnerungsarbeit bewusst gemacht und eingeordnet werden. Adler hat eine andere Auffassung. Für ihn zeigen sich die Grundeinstellungen eines Menschen zu seinem Leben. Demnach handelt es sich bei derartigen Kindheits-Erzählungen um verdichtete „Lebensprogramme", zurückdatiert auf die Kinderjahre. Was einer erinnert, das zeigt, wohin er strebt.
Aufschlussreich sind Fragen nach den Schwellensituationen des Lebens. Der gesunde Mensch überschreitet Schwellen; der Neurotiker bleibt vor ihnen stehen oder weicht zurück. Solche Hürden sind z.B. Eintritt in Kindergarten und Schule, Berufswahl, erste sexuelle Kontakte, Liebesbeziehungen, Ehe, Geburt der Kinder, Anzeichen des Altwerdens, Auszug der Kinder aus dem Hause, Konfrontation mit Krankheit und Tod usw.
Auch Träume gehören in die Anamnese. Bedeutsame Träume werden über Jahre hinweg in Erinnerung behalten. Tagträume sind nicht weniger von diagnostischem Wert als die in der Nacht.
Jedes belanglos scheinende Detail der Biografie kann anamnestisch relevant sein. Hat man Übung in dieser Forschungs-Kunst, dann ordnen sich die Erzählungen des Patienten zu Strukturen und Sinnganzheiten, deren tiefere Bedeutung aber erst im Verlauf der Therapie zum Vorschein kommt.

Warum sprechen wir von Kunst und nicht von Technik der Anamnese?
Das umfangreiche Erfassen der persönlichen Lebensgeschichte ist für das Verstehen von Patientenschicksalen unentbehrlich. Es ist die wichtigste Grundlage für die Psychotherapie. Nur über das Verstehen der äußeren und der inneren Welt des Pat. können wir in der Psychotherapie dessen Reaktionsweise nachvollziehen. Hierfür müssen wir uns gefühlsmäßig in die Geschichte des Analysanden einlassen, um die Grundmuster der Lebensbewegung und Entwicklung klären zu können. Im Zentrum der Anamneseerhebung stehen Themen wie persönliche Beziehungen, Herkunftsfamilie, berufliche Situation und soziokulturelle Umgebung. Dabei wird jedoch eine allein analytisch-reduktive Erkenntnishaltung die Lebensgeschichte eines Menschen immer nur im Ist-Zustand diagnostizieren können.
Mit dem „liebenden Blick" (Nicolai Hartmann) erfassen wir behutsam tastend die Lebensdetails und ordnen sie intuitiv in einem kreativen Akt als Zusammenhangsbetrachtung zu einer Sinnganzheit. Damit eröffnen sich über die Engen der Persönlichkeit hinaus die Werdens-Möglichkeiten eines Menschen. Und an diesem Zusammenhang zeigt sich, dass in einer Psychotherapie beide Beteiligte sich als Werdende begreifen sollten. Sofern wir unseren Beruf nicht als Job auffassen oder die Rolle des bereits Wissenden beanspruchen, kann diese gemeinsame Aufgabe gelingen: So „ermöglichen gelungene Dialoge die Entwicklung von Denkakten, die man alleine kaum je erlebt und gedacht hätte." (Gerhard Danzer: Wie wäre es, ein Mensch zu sein? S. 55)

weiterlesen im PDF