Kompensation

Seelische Störung als Kompensation und Überkompensation

Vom Begriff Kompensation (lat. compensare: „Ausgleich") macht Alfred Adlers Individualpsychologie einen weitläufigen Gebrauch. In seiner 1907 publizierten Studie über die Minderwertigkeit von Organen geht er von der Tatsache aus, dass im Organismus viele Organschwächen ausgeglichen werden. Wird z.B. eine Niere operativ entfernt, dann vergrößert sich die zurückbleibende und übernimmt die Funktion des fehlenden Organs. Auch der Herzmuskel kann sich, bei erhöhtem Widerstand im Gefäßsystem, mächtig verstärken.

Nach Adlers Auffassung ist auch das „seelische Organ" des Menschen auf Kompensation hin angelegt. Leibliche Schwächen können oft durch vermehrten seelisch-geistigen Einsatz behoben werden. Bei günstiger, aber auch bei ungünstiger Konstellation kann es sogar zu Überkompensationen kommen. Menschen mit kurzsichtigen Augen würden eine Intensität des Schauens und Beobachtens entwickeln, von der der Normalsichtige weit entfernt bleibt. Adler will beobachtet haben, dass viele Maler kurzsichtig waren, viele Musiker Gehörschwierigkeiten usw. hatten. Demostenes und C. Desmoulins waren Stotterer und wurden zu hinreißenden Rednern. In den Märchen und Mythen findet sich die Beschreibung, dass kunstfertige Handwerker und Erfinder irgendwelche Körpermängel hatten (Wieland der Schmied, Dädalus, Hephaistos usw.), die sie durch ihren Erfindungsgeist kompensieren konnten. In seiner frühen Phase hielt Adler die Organminderwertigkeit für den Motor der kulturellen Evolution.

Auch seine Charakter- und Neurosenlehre zeigt Auswirkungen dieser Theorie. Charakterzüge sind nicht selten Kompensationen und Überkompensationen von Minderwertigkeitsgefühlen, die sich irgendwann in der frühen Sozialisation fixiert haben. Die ganze Neurose kann sogar als ein Kompensationsversuch angesehen werden. Wenn ein Mensch sich klein, unbeholfen und hilflos fühlt, dann kann er in dieser Bedrängnis seine Energie in den Aufbau von ‚Hilfe heischenden' Symptomen verlegen, die ihm bei einer mitleidigen Umwelt Beachtung und Sympathie verschaffen. Fast jeder Neurotiker hat nach Adler „etwas zu viel Symptomatik"; mit weniger könnte er auch auskommen. Aber das Gesetz der Überkompensation verlangt ein Plus an Sicherung. Verstärktes Geltungsbedürfnis, Überheblichkeit und Anmaßung sind charakterliche Manifestationen solcher Überkompensation.

Bei dem bisher Gesagten bleibt das Bewertungskriterium, ob ein Kompensationsverhalten als adäquat oder neurotisch zu betrachten ist, noch wenig bestimmt. Das ändert sich im Zusammenhang mit der Einführung von Adlers Begriff vom Gemeinschaftsgefühl (1918) Nun zeigt sich an der Qualität der Kompensationsversuche, in welchem Grad sie produktiv sind in Bezug auf die Menschheitsaufgabe, die in unserer Beitragsleistung liegt. Egozentrisches Überlegenheitsstreben ist diesbezüglich meist unproduktiv. Doch auch die Beiträge von Künstlern, deren Lebensalltag häufig nicht gerade durch übermäßig soziale Vorbildlichkeit imponiert, vergrößern auf ihre Weise den Bestand an dauerhaft Wertvollem unserer Kultur.

Bei C. G. Jung erhielt der Kompensationsbegriff eine andere Bedeutungsnuance. Die Analytische Psychologie zerlegt die Psyche in eine Gruppe von polaren Instanzen und Kräften, die ständig wechselseitigen Ausgleich erforderlich machen. Für jede seelische Lebensäußerung gibt es irgendwo ein Gegenstück; nur die lebendige Integration dieses dialektischen Spannungsgefüges ermöglicht seelische Gesundheit.

Wichtige Kompensationsvorgänge spielen sich z.B. zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten ab. Vor allem das Letztere nimmt beinahe stets die Gegenposition zum bewussten Standpunkt ein. Insbesondere in den Träumen entdeckt Jung diesen Dynamismus. Wer sich beispielsweise als „moralisch absolut integer" einschätzt, wird dann möglicherweise von seinem Unbewussten hartnäckig von wenig moralischen Traumbildern geplagt. Aus seinem Innern heraus meldet sich eine Stimme, die seine ethische Hochstapelei auf mittlere Maße reduziert.

Das Bewusstsein ist nach Jung fast wesensmäßig einseitig und unvollständig. Damit ein Mensch nicht in bloßer Alltagsvernünftigkeit stecken bleibt, braucht er Ergänzung durch unbewusste Bilder, Richtungsweisungen und Wertungen. Wer es sich zur Regel mache, sein Unbewusstes zu befragen, worauf es ‚hinauswill', habe viel gewonnen. Meistens ‚will' unsere innere Ganzheit oder das verborgene Selbst etwas ganz anderes, als sich das Bewusstsein vorstellt. Nach Jung hat die unbewusste Seelentätigkeit mehr Lebenserfahrung und Einsicht als das Bewusstsein, das weithin im Bann konventioneller und kritikloser Anschauungen steht.

Nach Jung ist die Psyche ein System der Selbstregulation. So wie es im Körper unzählige Regulationen gibt, von denen der Laie nichts weiß und nichts zu wissen braucht, hat auch die Psyche tausenderlei Möglichkeiten, aus Einseitigkeit Vielseitigkeit zu machen. Wenn etwa das Bewusstsein lebenswidrig lebt und handelt, kann das Unbewusste Krankheit hervorrufen, die den Organismus stilllegt und zur Besinnung ‚auffordert'. Bei zu viel Expansion erzeugt es Angst oder andere Symptome, aber immer hat es die Unversehrtheit und Integrität des Ganzen im Auge.

Es ist wohl kein Zufall, dass der Kompensationsgedanke von zwei als Mediziner sozialisierten Psychologen aufgegriffen wurde. Das späte 19. und frühe 20 Jhdt. war die Zeit der Lebensphilosophie. Die Naturforschung stand vor dem damals noch unenträtselten Geheimnis, was denn das Lebendige von der toten Materie unterscheidet. Schopenhauer, Nietzsche und in Frankreich Bergson hatten von philosophischer Seite ihre Theoreme von der Art eines Willens alles Lebendigen zum Leben spekulativ formuliert. Seine Vorformen (z.B. Bergsons élan vital) reichten bis ins Biologische. In der Physiologie kam die eigentümliche Anpassungsfähigkeit aller Organismen gegenüber inneren und äußeren Störungen in den Blick. In geheimnisvoller Zweckmäßigkeit ‚antwortete' der Organismus selbsterhaltend, ...

weiterlesen im PDF