Einheit der Persönlichkeit

Man mag von der Einheit des Ich noch so wenig wissen wollen - man wird sie nicht los

Diese Aussage Alfred Adlers war gegen die Auffassung der Psychoanalyse gerichtet, welche die menschliche Person in verschiedene Instanzen (Ich, Es, ÜberIch) zerlegt, die mit- und gegeneinander wirken. Auch spricht sie in der Regel von einem grundlegenden Triebantagonismus, der nur mühsam zur Einheit gezwungen werden kann. Ähnlich kennt auch die Analytische Psychologie von C.G. Jung ein Persönlichkeitsmodell, bei dem seelische Kräfte und Mächte miteinander agieren. Aber im Begriff Selbst huldigt Jung einer Einheitsvorstellung – allerdings ist dieses Selbst kaum durchschaubar, und man weiß nicht recht, ob es potentiell vorhanden ist oder erst geschaffen werden muss. Wir vermuten das Erstere; ähnlich ist es auch bei den Neopsychoanalytikern, die immer wieder vom Selbst reden und offenbar davon ausgehen, dass es tief im Innern der Person auf seine Verwirklichung wartet.

A. Adler postulierte die Einheit und Ganzheit der menschlichen Person. Sie ist unitas multiplex, also Einheit des Verschiedenen. Alle Strebungen, Kräfte, Motivationen usw. sind nicht ein Faktorenchaos, sondern eine Vielfalt, die dauernd zur Einheit hinstrebt. Im Menschen ist alles mit allem verbunden. Auch wenn aus praktischen Gründen von Leib, Seele und Geist gesprochen wird, sollte man wissen, dass die Leib-Seele-Geist-Einheit gemeint ist.

Damit scheint die Vorstellung von der menschlichen Person der eines Kunstwerks vergleichbar. Vom großen Kunstwerk sagen wir, dass es Einheit in der Mannigfaltigkeit sei. Hat man den Stil oder die zentrale Idee des Werkes erahnt, dann können wir begreifen, warum die Details so und nicht anders angeordnet sein müssen. Ähnlich wollte Adler die Menschenkenntnis und die Psychodiagnostik betreiben. Er sammelte zahlreiche Details zum Menschenverstehen; er war aber erst zufrieden mit seinen Befunden, wenn sich diese zur Einheit des Lebensstils zusammenordneten.

Der Dichter sagt zwar: Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust! Aber das ist nur Rhetorik, gewissermaßen eine Diagnostik des ersten Blicks. Gräbt man tiefer, dann wird wohl immer klar, dass auch einander widerstrebende Seelenregungen sich zum Ganzen zusammenfügen. Oft ist der Sinn dieser ‚Doppelseele', dass jemand sich nicht entscheiden kann und will. Dann ist es von Vorteil, zweierlei Tendenzen in sich zu beherbergen und sich zwischen ihnen nicht zu entscheiden.

Auch die Daseinsanalyse geht von der Einheit der Persönlichkeit aus. Alle Befunde am Menschen sind stimmig – sie stimmen zusammen. Hat der Patient etwa hohen Blutdruck, dann pocht und hämmert nicht nur sein Herz; er ist auch als Ganzer in einer Dampfkesselsituation, fühlt sich eingeengt und beeinträchtigt, sodass es in seinem Gemüt kocht. Es müssen chronisch Gedanken, Gefühle, Lebensvorgänge usw. gewissermaßen in Wallung sein, damit das Leibgeschehen entgleisen und pathologisch auffällig werden kann. Und eine Heilung ist nicht zu erzielen, wenn nur der Blutdruck medikamentös gesenkt wird. Der ganze Mensch mit all seinen Lebens- und Weltbeziehungen muss neu ausgerichtet werden, wenn das Herz ruhig im Innern pochen soll.

Adler plädierte dafür, das Menschenleben auch in seiner historischen Di­mension als Einheit zu sehen. Dem verstehenden Betrachter zeigt sich ein Menschenleben wie ein Roman oder wie ein Drama, kunstvoll aufgebaut und strukturiert. Es ist eben jeder Mensch irgendwie der Schöpfer seiner selbst, ein Künstler am Stoff des eigenen Daseins. Auch hier gibt es mehr und weniger Kunstfertigkeit.

Selbst die Träume passen zur Einheit der Persönlichkeit. Ängstliche Charaktere träumen von Gefahren, von Bedrängnis und Flucht; mutigere Menschen träumen vom Bewältigen der Schwierigkeiten – sie siegen sogar im Traum; Mitmenschen träumen von sozialen Situationen und Handlungen. Sinnfällig kommen solche Zusammenhänge in der Literatur zur Erscheinung. Raskolnikow, die Hauptfigur in Dostojewskis Schuld und Sühne,plant einen Mord. Um die Tat begehen zu können, muss er die Stimme seines Gemeinschaftsgefühls zum Verstummen bringen. Im Traum von einem brutalen Kutscher, der ein entkräftetes Pferd zu Tode prügelt, verschafft Raskolnikoff sich die aggressiv-aufgewühlte Stimmung, in der ihm seine Tat gerechtfertigt erscheint.

Unseres Erachtens sollten zweierlei Einheiten der Persönlichkeit unterschieden werden. An sich ist jeder Mensch ein einheitlicher Entwurf. Da er aber einer Vielzahl von determinierenden Einflüssen unterliegt, ist diese Einheit meistens gestört; manche Charaktere muten wie ein aus bunten Flicken bestehender Rock an. Kraftvollere Menschen jedoch schaffen sich zu einer Einheit der Person im positiven Sinne. Es bedarf wohl der lebenslängliche Bemühung, um aus der Vielfalt der Lebensdeterminanten etwas Ganzes zustande zu bringen. Das imponiert dann als große und echte ...

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