Traum

Der Traum als Brief der Seele

Die Menschheit hat seit jeher geahnt, dass die Träume einen Sinn haben. Im Altertum nahm man jedoch an, dass der Traum in erster Linie einen prophetischen Inhalt habe; aus ihm wollte man vor allem Warnungen in Bezug auf die Zukunft entnehmen. Aber es gab auch Lehrbücher der Traumdeutung, welche den Zusammenhang zwischen Träumer und Traumhandlung zu analysieren versuchten. Wir erinnern nur an das bekannte Traumbuch des Artemidor von Daldis, einem Wahrsager und Traumdeuter aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert.
Das Mittelalter bevorzugte eine religiöse und abergläubische Auffassung des Traumes. Die Theologen insistierten auf die Formel, dass Träume von Gott gesandt seien. Auf diese Weise verschloss man sich den Zugang zu einer naturgemäßen Trauminterpretation.
Erst die Romantik befasste sich tiefsinnig mit den Träumereien der Menschen, so bei Novalis und seinen Zeitgenossen in aphoristischen Bemerkungen. Von philosophischer Seite betonte Schopenhauer schließlich, dass der Traum nichts Übersinnliches enthält. Er entspringe dem gelebten Leben des Träumers. In einer berühmten Formulierung sagte der Philosoph, dass wir im wachen Dasein ziemlich folgerichtig im Buch unseres Lebens lesen. Nicht so im Schlaf; da blättern wir willkürlich nach vorne und zurück; dadurch sind unsere Träume so schwer verständlich. Aber alles, was der Traum erzählt, stammt aus unserer eigenen Biografie. Würde man genau genug nachforschen, dann könnte man jedem Traumdetail einen sinnvollen Platz in der Lebensgeschichte zuweisen.
Ähnlich klingt es bei Nietzsche, der sich rein intuitiv noch tiefer mit der Traumpsychologie auseinandergesetzt hat als sein philosophisches Vorbild. Nietzsche spricht in der Geburt der Tragödie von einer „höhere(n) Wahrheit" der Traumzustände „im Gegensatz zu der lückenhaft verständlichen Tageswirklichkeit". Im Träumen zeige sich „das tiefe Bewusstsein von der im Schlaf und Traum heilenden und helfenden Natur". Sowohl Freud, Adler als auch Jung haben in dieser Hinsicht Nietzsche als Vorläufer dankbar anerkannt. Aber beide Philosophen formulierten nur geniale Ahnungen, die noch auf Übersetzung in den praktischen Alltag warteten.
Dort wiederum sah eine naturwissenschaftliche Medizin in den Träumen gewissermaßen nur eigenartige Zuckungen und Zustände des schlafenden Gehirns. Dagegen unternahm Sigmund Freud mit Der Traumdeutung (1900) einen kühnen Vorstoß in eine wissenschaftliche und psychologische Traumtheorie. Schon in den allerersten Zeilen seines Meisterwerkes kündigt er an, dass er ein Verfahren gefunden habe, wodurch man die seltsamen und abstrusen Elemente des Traums in das Leben des Wachseins einordnen könne. Dieses Verfahren war die Psychoanalyse.
Freud hat im Laufe der Zeit seine Traumtheorien mehrfach modifiziert. Aber immer hielt er daran fest, dass Träume Wunscherfüllung seien. Demnach werden verdrängte „infantile Triebwünsche" durch ein Ereignis des Vortages („Tagesrest") mobilisiert. Sie drängen sich ins Bewusstsein, stoßen aber hierbei auf den „Widerstand der Zensur", die mit dem Ich (später Über-Ich) als identisch gedacht werden muss. Der Zensor erzwingt die Traumentstellung und die Symbolisierung, weil nur in symbolisierter Gestalt die inakzeptablen Sexualwünsche bewusstseinsfähig sind. Es existiert eine regelrechte Traumarbeit, welche die unbewussten Traumgedanken so lange modifiziert, bis sie bewusstseinskompatibel sind. Die Traumdeutung muss gleichsam den Weg zurück antreten und dabei die Traummotive des chaotischen Traumtextes erraten. Das ist ein wichtiger Schlüssel zum Charakter und zur Problemlage des Träumers. Trauminterpretation ist nach Freud die Via regia, der Königsweg zum Unbewussten.
Der Traum ist das erste Glied in der Reihe psychopathologischer Phänomene. Hat man ihn verstanden, dann begreift man Neurosen und Psychosen. Den letztgenannten Zusammenhang haben bereits Kant und Schopenhauer gesehen. Beide nannten den Wahn einen Traum, aus dem der Träumer nicht erwachen kann. Lässt man einen Träumenden unter den wachen Mitmenschen agieren, hat man einen Wahnkranken vor sich.
Der Traum ist autistischer und egozentrischer als das Wachleben. Er bewegt sich in der Sphäre der Psyche, aber durch seinen triebhaften Hintergrund ist er auch für physische Einflüsse weit geöffnet. Bei vielen Träumen können wir durchaus den Eindruck gewinnen, dass Leib und Seele an ihrer Gestaltung gleichermaßen beteiligt sind.
Freud beschrieb als Mechanismen der Traumarbeit ...

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