Finalität

Kausalerklärungen versus Finaldeutungen 

Sigmund Freud hatte die Ambition aus der Psychoanalyse eine streng naturwissenschaftliche Psychologie zu machen. Im Geiste des damals vorherrschenden Positivismus und Materialismus postulierte er deterministische Zusammenhänge im Seelenleben: Seelisches gehe aus Seelischem in kausaler Verknüpfung hervor, wobei letztlich das Seelenleben kausal, d.h. „wirkursächlich" durch biologische Kräfte (Triebe) gesteuert werde. Auch in der psychotherapeutischen Praxis wich Freud von diesem Determinismus niemals ab; er sah das Ziel der Psychotherapie darin, die Urtraumen ausfindig zu machen, die die pathologische Entwicklung ursächlich in Gang gesetzt hätten. Therapie bedeutete danach: Durch Bewusstmachen solcher Ursituationen kommt ein neuer Faktor zum gesamtpsychischen Nexus. Das Bewusstsein durchbricht so den ehernen Zwang der Triebabläufe bzw. es fügt dem Kausalzusammenhang eine neue Kraft hinzu, die neue Wirkungen hervorruft.

Die Anwendung des Kausalprinzips auf das Seelenleben wirft aber schwierige Probleme auf. Der eigentliche Bereich der Kausalität ist die materielle Welt; beim Psychischen und Geistigen haben wir Mühe, strikte Wenn-Dann-Relationen zu konstruieren. Schon im Verhalten von Tieren muss angesichts von äußeren Stimulantien die innere Situation des Lebewesens (seine Affektlage, sein Gestimmtsein) berücksichtigt werden. Die Formel „Wenn a, dann b" hilft nur im beschränkten Maße, das Verhalten eines Tieres in einer Situation zu begreifen.

Noch komplizierter wird es beim Menschen, der als Lebewesen in die seelisch-geistige Dimension hineinragt. Er reagiert nicht nur auf Reize und Ursachen, sondern handelt offenbar nach Zielen und Zwecken. Auch im Alltagsleben beurteilt man das Vorgehen eines Menschen nicht so sehr nach dessen Ursachen; man fragt nach Zielen und Werten, die er verwirklichen will, und erst aus diesen wird begreiflich, welche der sog. Ursachen er in sich wirksam werden lässt. In dieser Betrachtungsweise werden die Kategorien von Finalität oder Teleologie als ihrem Gegenstand adäquat angesehen. Sie gehen auf Aristoteles der die „causa efficiens" (Wirkursache) von der „causa finalis" (Zweck, Endursache, Ziel) unterschied. Letztere dient dem Verstehen des menschlichen Lebensgeschehens und menschlicher Verhaltensweisen. Man denke etwa an einen Maler, der ein Bild malen will; er wird tausend verschiedene Handlungen in Gang setzen, um seine Imagination in Farbe auszudrücken. Wenn sich darüber irgendetwas sinnvoll sagen lässt, dann vielleicht, indem man die von ihm gestaltete Absicht erfasst. Kausale Ableitungen seiner Pinselbewegungen aber brächten nur lächerliche Hypothesen, die weder Laien noch Kunstkenner interessieren.

Aus diesem Grunde entwarf Adler im Kontrast zu Freud eine verstehende, also geisteswissenschaftliche Tiefenpsychologie. Er schloss sich damit an Dilthey und die Lebensphilosophie an, die den grundsätzlichen Unterschied von Naturerklärung und Seelendeutung betonten, wie ihn Diltheys Diktum „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir" prononciert zum Ausdruck bringt.

Das Verstehen hat ganz andere Voraussetzungen und Bedingungen als ein Erklären. Bei ersterem kommt unsere lebendige Einfühlung zum Tragen; wer verstehen will, muss mit dem Verstehens-Objekt eine emotionale Beziehung eingehen. Dabei kann der Verstehende an seinem Gegenüber nur begreifen, was ihm an sich selbst transparent geworden ist. Das Medium, in dem sich die Verstehens-Arbeit abspielt, ist die uns alle einhüllende Kultur, die Sphäre des „objektiven Geistes" (Hegel). Dabei stehen wir zum Gegenstand in einem Erkenntnis-Verhältnis, das ihn als etwas von uns Abgerücktes betrachtet, zu dem wir aber zugleich durch unser ihm Gerecht-werden-Wollen in einer emotionalen Verbindung stehen. Verstehen ist nicht loslösbar von einem Bewerten.

Nach Adler hat jeder Mensch viele Teilziele im Leben, die zusammengefasst sind in einem Persönlichkeitsideal oder Lebensentwurf, der das imaginierte Endziel aller seelischen Bewegungen ist. Einen Lebenslauf final deuten heißt, dieses dunkel gefühlte und kaum verstandene Ich-Ideal zu erraten und in Worte zu kleiden. Wenn man das Richtige getroffen hat, dann ordnen sich alle Teilaspekte der Fremdpersönlichkeit zu einem sinnvollen Ganzen zusammen, ähnlich einem Kunstwerk, dessen Teile alle zueinander und zur Totalität passen müssen.

Die Finalanalyse hat in der Therapie den großen Vorteil, dass sie den Patienten zum Subjekt und Urheber seiner Lebensführung macht; sie demonstriert ihn nicht wie die Kausalanalyse als plattes Ergebnis von willensfremden Kausalverbindungen. Wenn der Patient seine Symptome, seine Lebensschwierigkeiten, seine innere und äußere Not als Folge von Fehlentscheidungen und falschen Zielsetzungen begreift, dann verspürt er meistens den Wunsch, sich in der Zukunft zu ändern. Kausale Erklärungen ergeben nur Selbstmitleid; Finaldeutungen ...

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