Tendenziöse Apperzeption ist ein Begriff aus Alfred Adlers Individualpsychologie. Er verweist darauf, dass jeder gemäß seiner Persönlichkeit, seinem Temperament und seiner Charakterstruktur alle Wahrnehmungsinhalte solange innerlich umformt, bis sie zur einmal eingeschlagenen Linie im Leben und im Verhalten passen. Beim Verstehen der Lebensbewegung eines Menschen besteht deshalb die Hauptschwierigkeit darin, dass dessen Einheit und sein Ziel nicht auf der objektiven Wirklichkeit aufbauen, sondern auf seiner subjektiven Anschauung des Lebens. Denn obwohl wir alle in ein und derselben Tatsachenwelt leben, organisiert sich diese jeder nach seinem individuellen Wahrnehmungsempfinden. Bereits Nietzsche nahm gewissermaßen die Theorie der tendenziösen Apperzeption vorweg, als er in Jenseits von Gut und Böse formulierte: Hat man einen bestimmten „Charakter, so hat man auch sein typisches Erlebnis, das immer wiederkommt“.
Bereits in den ersten Lebensjahren verwertet das Kind seine Erlebnisse und Erfahrungen nicht willkürlich, sondern eigenschöpferisch. Heranwachsend hat es bereits „eine Meinung von sich und von der Welt“ gebildet. Und nach dieser privaten Logik verfestigt sich seine individuell-subjektive Anschauung des Lebens und der auftretenden Schwierigkeiten. In Adlers Worten: „Das Kind wird fortan gegebene Situationen nicht mehr so wahrnehmen, wie sie tatsächlich auftreten, sondern nach einem persönlichen Wahrnehmungsschema.“ (Lebenskenntnis S.16) Erfahrungen sind demnach vom Vorurteil unserer eigenen Interessen geleitet.
Zur Sicherung und Verfestigung der eigenen Position nehmen wir nur das wahr, was unser Weltbild bestätigt oder unserem Werthorizont entspricht. Diese subjektive Wahrnehmungsfunktion ist um so stärker ausgeprägt, je ängstlicher und entmutigter wir sind, weil unser Bedürfnis nach sichernden Orientierungslinien in einer Art Kunstgriff stimuliert ist. In der Psychose ist die Wahrnehmungsverzerrung sogar noch machtvoller. Sehr eindrücklich ist dies in der Paranoia. Der paranoide Mensch fühlt sich von Machenschaften umgeben, die gegen ihn gerichtet sind. Man spioniert ihn aus, man verfolgt ihn, man stört sein Wachen und Schlafen. Alles was geschieht, ist auf ihn bezogen. Es wäre ausgesprochen laienhaft, ins Argumentieren zu kommen und derartiges ausreden zu wollen.
Kaum je sind wir innerlich so frei und autonom, dass wir die Welt und die Mitmenschen wie in einem reinen Spiegel sehen können; immer gibt es ähnliche Erfahrungen und Emotionen, so dass man von der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“, von einem „Wiederholungszwang“, also von einer endlosen Wiederholung unseres Verhaltens sprechen kann. Die einmal eingeschlagene Perspektive beherrscht den späteren Verlauf unserer Existenz. Hieran wird deutlich, wie sehr die Vergangenheit eines Menschen in seine Gegenwart hineinragt.
Nach Adler wird der Wahrnehmungsprozess des Menschen vom Ich-Ideal, vom Ziel, von der Leitlinie des Lebens und von der Charakterstruktur regiert. H.S. Sullivan hat Adlers Theorem in seine Interpersonelle Psychiatrie übernommen. Er spricht von „selektiver Wahrnehmung“; unser Ich wählt aus, was es sehen und hören will. Noch bedeutsamer ist bei Sullivan die „selektive Unaufmerksamkeit“, die jegliche Charakterschablone stützt und lebendig hält. Man perzipiert ständig an all dem vorbei, was unsere Weltsicht und damit unsere Stellungnahme zum Leben zu widerlegen imstande wäre.
Neurose ist ein Inertialsystem; sie ist voller Trägheit und „will sich nicht ändern“. Das spielt auch in der Politik und im Kulturleben eine verhängnisvolle Rolle. Angesichts der durch das gesellschaftliche Leben erforderlichen Entscheidungen bei gleichzeitiger Ungewissheit ihrer künftigen Folgen, sind wir Menschen anfällig für beruhigend einfache Lösungen. Wenn diese aber im großen Maßstab katastrophal enden, dann sind wir schnell bereit, denen die Führung zu überlassen, die das Geschehene willkürlich umdeuten und uns damit von Schuld und Unvernunft freisprechen. Vernunft, Selbstkritik sowie dialogisches Leben und Denken sind Gegengifte gegen tendenziöse Apperzeption.