Aggression

In friedlichen Zeiten fällt der kriegerische Mensch über sich selbst her (Nietzsche)

Aus dem Lateinischen; adgredi heißt: herangehen, angreifen. Die Fachliteratur unterscheidet deutlich Aktivität von Aggression; erstere ist ein neutrales oder gar produktives Tun, letztere ist destruktiv. Aber die Meinungen gehen auseinander bezüglich dessen, was am Menschen primär und was sekundär ist.

Zur Aggression gehören u. a.: Vorurteile, herabsetzende oder gewalttätige Verhaltensweisen, asoziale Charakterzüge (Neid, Geiz, Eifersucht, Herrschsucht, Jähzorn usw.), Kriminalität, Habgier, Kriegsvorbereitungen und Kriege, aber auch hasserfülltes Denken und Handeln, negativistische Weltanschauungen u. a. m.

Der Streit in den verschiedenen Schulen der Humanwissenschaften geht hauptsächlich auch darum, ob die Aggression ein Naturtrieb (‚Instinkt‘) des Menschen oder ob sie anerzogen und kulturbedingt sei. Die erste Auffassung vertreten etwa Sigmund Freud und Konrad Lorenz; sie behaupten, dass der Mensch von Natur aus aggressiv sei und nur durch den Kulturzwang (via „Sublimierung“) veranlasst werden könne, sich mit dem Mitmenschen einigermaßen friedlich zu verständigen. Für Lorenz dient die innerartliche Aggression der Arterhaltung und der Evolution; bedauerlicherweise verfügt der Mensch nicht mehr über die Tötungshemmung der anderen sozial lebenden Arten, sodass seine Aggression ausufern und zerstörend wirken kann. Da es sich aber (angeblich) um einen Trieb handelt, kann diese Naturkonstante nicht ausgelöscht werden. – Man muss kulturell wertvolle Verhaltensmuster finden, die die Aggression in sozial vernünftige Bahnen leiten. Das Menschenbild der orthodoxen Psychoanalyse und der Verhaltensforschung lehnt sich offensichtlich an die düsteren Aspekte der Philosophien von Th. Hobbes, A. Schopenhauer, F. Nietzsche an; zudem spielt auch ein missverstandener Darwinismus (‚Kampf aller gegen alle‘) hierin eine erhebliche Rolle.

Gegen die Naturtrieb-Auffassung der Aggression stehen die Philosophien von J. J. Rousseau (Der Mensch ist gut!), K. Marx (Der an sich gute Mensch entartet infolge des Privateigentums und der Klassenherrschaft) und der neueren Psychologie und Sozialwissenschaft. Alfred Adler als Schüler von Freud sah den Menschen als ein Gemeinschaftswesen; nur infolge von erzieherisch und kulturell vertieften Minderwertigkeitsgefühlen wird der Mensch (sowohl der einzelne als auch größere Kollektive) auf die Bahn des Macht- und Geltungsstrebens abgedrängt; Aggression folgt demnach aus der verstärkten Lebensangst und ist sozusagen eine schlechte Kompensation für die drückende Lebensunsicherheit. Die als Ganzes aggressive Kultur (Patriarchat, Militarismus, Klassengesellschaft, ökonomische Ausbeutung usw.) erzwingt aggressive Familienstrukturen, in denen die Kinder schon frühzeitig lernen, anstelle der Solidarität den Kampf um die Überlegenheit zu setzen.

Die Frustrations-Aggressions-Theorie (1939) der Yale-Forscher in den USA betont, dass Aggression erlernt wird und dass sie in einem messbaren Zusammenhang mit sogenannten Frustrationen (Zielhemmungen, Triebversagungen, Enttäuschungen) steht. Wird ein Organismus angesichts eines vitalen Wunsches oder Bedürfnisses blockiert, so verfällt er in die Aggression als eine pathologische Blockade-Reaktion; je nach Verhältnissen kann es dann zu Fremd- oder Selbst-Aggression kommen. Zur Letzteren gehören im psychologischen Sinne z. B. Trauer und Melancholie, aber auch der Suizid. In späteren Darlegungen wurde diese Theorie verfeinert: Es kommt offenbar auf die Persönlichkeitsstruktur eines Menschen an, ob er auf Versagungen irgendwelcher Art mit Selbstanklagen, Feindseligkeit oder problemlösendem Verhalten reagiert.

Das Pendel schlägt heute sichtlich zugunsten jener Auffassungen aus, die die Aggression auf erzieherische, politisch-kulturelle, ökonomische und historische Voraussetzungen zurückführen. Doch bei alledem ist zu bedenken, dass die Bereitschaft, auf überfordernde Situationen aggressiv zu reagieren, trotz aller aufklärerischen Fortschritte nicht spürbar geringer wurde. Vielleicht kann man Friedrich Nietzsches Bemerkung, dass in friedlichen Zeiten die kriegerische Seele über sich selbst herfalle, auch folgendermaßen deuten: Dem Wissen um unsere Verantwortung für eine Welt ohne göttlichen Beistand steht ein wachsendes Hilflosigkeitsgefühl gegenüber, das unsere Handlungsbereitschaft angesichts schwer durchschaubarer Schwierigkeiten einschränkt. Der Rückzug aus der Verantwortung ins Private induziert unerklärliche Sinnlosigkeitsgefühle, die eine latente Aggressionsbereitschaft aufrechterhalten. Dieser schleichende Prozess könnte vermutlich nur gebremst werden, wenn wir Wege zur Verbesserung der Kooperationsfähigkeit ins Auge fassten ...

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